Die Literatur in der Türkei wurde bis ca. 1862 klar von Männern dominiert. Frauen schrieben zwar auch zuvor, jedoch häufig anonym oder gar unter einem Pseudonym. Türkische Frauenliteratur taucht erstmals öffentlich im Jahre 1862 auf, als Fatma Aliye als erste Schriftstellerin der türkischen Literatur und islamischen Welt auftrat. Sie war eine Revolutionärin und Feministin, lernte neben Arabisch auch Französisch, und gründete außerdem die erste Frauenorganisation. Halide Edib, geboren 1884, war ebenso Schriftstellerin und Revolutionärin. Klar, dass auch sie feministische Standpunkte vertrat, aber doch immer im Rahmen der traditionellen Werte, vorgeschrieben und vorgelebt von ihrer Religion und von der Familie. Übrigens wurde ihr ein besonderes Denkmal gesetzt: Sie ist sie heute auf dem 50 Lira-Schein abgebildet.
Wie die beiden ersten Schriftstellerinnen wurde auch Leyla Erbil (1931-2013) in İstanbul geboren. Alle wuchsen in einer Kulturstadt auf und genossen eine gute Aus- und Allgemeinbildung. Leyla war Studentin der englischen Philologie, fing früh an zu schreiben und hatte bereits mit 14 ihre ersten Gedichte veröffentlicht. Durch Themen wie die weibliche Selbstbestimmung in Tuhaf Bir Kadın (dt. Eine seltsame Frau) erregte sie damals großes Aufsehen, denn üblich waren in der Frauenliteratur eher melancholische Geschichten über Einsamkeit oder Fluchtgedanken. In Tuhaf Bir Kadın geht es um die neunzehnjährige Studentin Nermin, die versucht frei von traditionellen Frauenbildern erwachsen zu werden. Sie trifft sich mit Künstlern der linken Literaturszene in İstanbul und trägt ihnen ihre eigene Literatur vor; erhält jedoch als Frau wenig Anerkennung. Nermin sieht letztendlich den einzigen Weg in ihre Freiheit in der Heirat. Allen drei Schriftstellerinnen ist gemein, dass sie Protagonistinnen kreieren, die mit ihrem Leben nicht glücklich sind und auf ihre Art und Weise versuchen auszubrechen.
Das Wahlrecht für Frauen gibt es in der Türkei schon seit 1930
Zieht man die Literatur heutiger Schriftstellerinnen heran, wie zum Beispiel İskender (dt. Ehre) von Elif Şafak, so lässt sich feststellen, dass die Themen Identitätsfindung und Einsamkeit nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Auch in ihrem neuem Roman Havva’nın Üç Kızı (dt. Die drei Töchter Evas, in Deutschland als Der Geruch des Paradieses erschienen) behandelt Şafak das Leben dreier Töchter, die unterschiedlicher in ihrer Art nicht sein können. Es prallen eine Atheistin, eine Gläubige und eine sich selbst als Sünderin bezeichnende geistig Verwirrte aufeinander.
Um zu verstehen, wie es um den türkischen Feminismus überhaupt steht, gehen wir zurück ins Jahr 1778, als die erste Schule für Mädchen gegründet wurde. Eine Sekundarschule für Mädchen im Jahr 1862 folgte sowie eine Schule für die Ausbildung von Lehrerinnen im Jahr 1873. 12 Jahre später erschien die erste Zeitung von und für Frauen, die sowohl Themen wie die Schönheitspflege als auch Literatur, Kunst und die Verbesserung der Situation der Frau behandelten. Die Präsenz der Frau in der Öffentlichkeit stieg, erste Frauenorganisationen wurden gegründet. Viele Frauenrechte wurden gebunden an den staatlichen Diskurs – die Forderungen der Frauen hatten sich immer innerhalb des Rahmens einer Mutter und Ehefrau abzuspielen. Doch mit der Zeit sah man ein, dass die persönliche Entwicklung der Frau nicht nur als Fortschritt in ihrem Leben sondern auch der Gesellschaft verstanden werden kann. Die Frau wurde also nicht nur als Mutter, sondern als ein zu formendes Objekt gesehen. Da sich die Frauenrechte im 20. Jahrhundert immens verbessert hatten, wurde die von Nezih Muhiddin gegründete Frauenpartei letztendlich aufgelöst. So sah der neu gegründete Staat unter Führung Atatürks keine Notwendigkeit mehr in der Existenz einer Frauenpartei.
Trotz des engen Rahmens, in dem sich eine Frau zu bewegen hatte: Das Wahlrecht für Frauen gibt es in der Türkei schon seit 1930, national seit 1934. Zumindest im Vergleich zu Italien (1946) und der Schweiz (1971) ist das sehr früh. Feminist*innen der Türkei kämpfen weiter für das Voranschreiten der Gleichberechtigung, und es gibt unzählige Organisationen, die sich für die Rechte von LGBT+-Menschen einsetzen, wie zum Beispiel die İstanbul LGBTT Dayanışma Derneği (dt. İstanbul LGBTT-Solidaritätsverein).
Wer sich auch ohne Türkischkenntnisse für den türkischen Feminismus bzw. für die türkische Literatur interessiert, der kann mittlerweile auch in deutschsprachiger Literatur fündig werden. Tuhaf Bir Kadın ist hier ein guter Tipp und auch auf deutsch erhältlich. Der Roman erlaubt einen Einblick in die Gedankenwelt vieler türkischer Frauen und lässt erahnen, wie es sich anfühlen muss, in der Schriftsteller-Existenz nicht ernstgenommen zu werden.
Credits
Text: Yasemin Altınay
Bilder: Flickr, edebiyathaber.net