Gerrit Wustmann ist nur einer von vielen, die dem Zauber von Istanbul verfallen sind. Aber er gehört eindeutig zu den wenigen, die diesen Zauber so schön erzählen können.
Als Lyriker arbeitet Gerrit seit einigen Jahren an einem mehrbändigen Gedichte-Zyklus zu Istanbul. Nach dem ersten Gedichtband Beyoğlu Blues (2011) erschien nun der zweite Teil Istanbul Bootleg (2013) bei dem Verlag Binooki auf Türkisch und Deutsch inklusive einer Hör-CD.
Erlebt man Gerrit Wustmann live auf seiner Lesung, merkt man direkt: Da sitzt nicht nur ein Istanbul-Liebhaber, sondern ein Kenner. Einer, der sich mit Leidenschaft dieser Stadt widmet. Man nimmt ihn nicht nur als Autor von Lyrik und Prosa wahr, sondern zugleich als jemanden, der die Musik und Malerei, ja auch die Archäologie Istanbuls versteht. Zwischen den Zeilen seiner Gedichte erklingen unmittelbar sanfte, nicht allzu fremde Töne: der Ruf der Muezzine und das Rauschen des Bosporus. Schließt man seine Augen, werden Tulpen, Ornamente, sogar die Straßenkatzen sichtbar. Gerrit führt den Zuhörer nicht nur durch die Stadt, er lässt ihn darin eintauchen und immer wieder spüren, an wie vielen Orten dieser Millionenstadt die Zeit still zu stehen scheint.
Uns wird bewusst, wie viel Geschichte er mit seinen Zeilen aufleben lässt. Geschichte, die fast schon zu verstauben drohte. So fasziniert er von Istanbul ist, so neugierig sind wir auf seine Person.
Gerrit Wustmann ist 1982 in Köln geboren und arbeitet als Korrespondent und Redakteur für Online- und Printmedien. Als Lyriker lebt und liebt er Köln und genießt seine Freiheiten in einer überschaubaren Lyriker-Szene. In Köln und Bonn studierte er Geschichte, Theologie, Politologie und Orientalistik. Sein bereits vorhandenes Interesse für das Thema Orient, sowohl politisch als auch kulturell, führte irgendwann unweigerlich zu einem Istanbul-Urlaub. Vor dreieinhalb Jahren besuchte er dort eine Freundin und seine Liebe zu dieser Stadt entfachte.
Welche Rolle spielt das Orientalische für deine Gedichte?
Ich habe generell ein großes Interesse am Orientalischen und lese viel klassische und moderne orientalische Lyrik und Prosa, weil ich diese sehr facettenreich finde. Bei meinen Istanbul-Gedichten habe ich zum Teil eine Montagetechnik angewendet, bei der ich auch Zitate von anderen Dichtern, die über Istanbul geschrieben haben, in meine Gedichte einbaue. Ich lese einen Text, zum Beispiel Sait Faiks Gedicht über die Galatabrücke, gehe dann dorthin und lasse das Jetzt auf mich wirken, gleiche aber auch das Erlebte mit den Leseeindrücken ab. Diese unterschiedlichen Ebenen fließen dann in meine Arbeit mit ein.
Vermeidest du nicht damit den komplett naiven Blick?
Ich mag den naiven Blick eigentlich sehr gerne. Irgendwo hinzukommen und erstmal unvoreingenommen aufzunehmen, was da auf mich einströmt. Im nächsten Schritt versuche ich das Ganze zu fassen. Ich fange gerne Stimmungen ein und versuche diese zu vermitteln.
Mich interessiert aber auch der Background: Was geschah damals und was passiert heute? Das ist bei so einem geschichtsträchtigen Ort wie Istanbul sehr spannend und das versuche ich bis zu einem gewissen Grad in meine Gedichte einzubauen.
Machst du sofort Notizen, wenn du etwas Besonderes erlebst?
Ich mache grundsätzlich nie Notizen! Ich habe auch nie einen Block dabei. Ich bin der Meinung: Wenn die Idee nach ein paar Tagen immer noch da ist, dann ist sie gut und ich mache etwas daraus! Ist die Idee am nächsten Morgen vergessen, dann taugte sie nichts. Manches schreibe ich auch spontan. Es kommt durchaus vor, dass ich am Tag was erlebe und eine Nacht lang darüber schreibe. Ich lasse die Texte aber meistens eine ganze Weile liegen und gucke dann nach einigen Monaten drüber. Dann kommt das Abstandselement zum Vorschein, ich nehme das Unmittelbare heraus und bringe die Reflexion hinein.
Warum hast du dich für das Gedicht als literarische Form entschieden?
Was mich am Gedicht als literarische Form so wahnsinnig fasziniert, ist, dass sie die kürzeste und prägnanteste ist. Der Versuch in einem minimalem Raum Maximales auszudrücken und dabei zu versuchen, sprachlich und inhaltlich etwas Neues zu machen. Manchmal gelingt das…
Kann man die Stimmungen in den Gedichten hinterfragen?
Man kann alles hinterfragen. Ich finde sogar, man muss alles hinterfragen. Ich bin ein Gegner dieses verschulten Gedichtverständnisses: Zu sagen, es gäbe nur diese eine Interpretation und die ist richtig. Das ist Unsinn. Mal davon abgesehen, dass kein Literaturwissenschaftler oder Germanist jemals nur ansatzweise in die Nähe dessen kommen kann, was ein Autor gedacht hat. Man hat natürlich eine gewisse Annäherung, wenn man die Orte und die historischen Hintergründe kennt. Aber auf das Eigentliche dahinter stößt man eher nicht. Gerade deshalb ist dieses Hinterfragen spannend: Für mich persönlich sind es die interessantesten Momente, wenn Leute nach einer Lesung zu mir kommen und mir durch ihre Meinung einen neuen Blick auf meine Gedichte eröffnen.
Credits
Interview: Fatma Doğan
Text: Saliha Kubilay
Fotos: Mirko Müller