Tezer Özlüs schriftstellerisches Schaffen erlangte in der Türkei erst posthum Kultstatus. Heute wird sie als „melancholische Prinzessin“ oder „Prinzessin der türkischen Lyrik“ bezeichnet. Diese Spitznamen klingen schön wie auch befremdlich, denn ein märchenhaftes Leben führte sie sicherlich nicht. Ein Happy End gab es für Tezer nicht, verdient hätte sie es jedoch.
Identitäten hatte sie viele, eine Prinzessin war sie jedoch nie. Sie war Grenzüberschreiterin, Gegnerin ideologischen Denkens, rastlose Seele, Melancholikerin, Kind, Ehefrau und Mutter, Schriftstellerin – die Liste ist endlos. Sie schreckte nicht davor zurück, in ihrer literarischen Arbeit ihr Innerstes auszugraben, es zu durchforschen und zu reflektieren. Dieses unersättliche Verlangen zu wissen, zu tasten und zu fühlen, zu schmecken und aus der Enge und Intoleranz eines zuvor kleinbürgerlichen Lebens auszubrechen, lassen sie auch als eine lebensdurstige Nomadin dastehen.
Auf den Spuren der unendlichen Welt
Tezer Özlü kommt am 10. September 1943 als Kind einer kemalistischen Familie in Simav, einer kleinbürgerlichen Stadt im Westen Anatoliens, auf die Welt. Ihr Geburtsdatum trägt für sie eine besondere Bedeutung und verbinde sie mit dem italienischen Schriftsteller Cesare Pavese, einer ihrer Inspirationsquellen, der am 9. September geboren wurde. Bereits mit sechs Jahren erscheint ihr die 4000-Einwohner-Stadt zu begrenzt und sie sehnt sich danach, der Tristesse und Monotonie zu entfliehen, zu reisen und so die Welt zu erforschen: „Ich habe die grenzenlose Größe und Weite der Welt gefühlt und glaubte daran, weit weg gehen zu müssen.“ (Anm. d. Red.: eigene Übersetzung) Mit zehn Jahren besucht sie das katholische österreichische St. Georgs-Kolleg in Istanbul. Gemeinsam mit ihrer Schwester Sezer und ihrer Schulklasse reist sie 1961 nach Wien, von wo aus sie 1962 und 1963 durch Europa trampt. Gleichzeitig versucht sie jedoch auch, den Erwartungen und dem Konformitätsdruck der Gesellschaft und ihrer Familie gerecht zu werden, und auf Wunsch ihres Vaters holt sie 1965 ihren Schulabschluss nach.
Mithilfe der Literatur schöpft sie Kraft in Zeiten des politischen Tumults und der daraus resultierenden obskuren und deformierten Gesellschaftsnormen. Es sind Schriftsteller wie Dostojewski, Camus, Sartre, Chekhov und Steinbeck, die Tezer beeinflussen und ihre Auseinandersetzung mit der Welt begleiten: „Ich schöpfe all meinen Mut aus den Toten. Aus den Toten, in deren Zitaten ich mich finde. Aus den Toten, die es geschafft haben, diese verdammte Welt in eine bessere Welt zu verwandeln.“ (Anm. d. Red.: eigene Übersetzung) Verheiratet mit ihrem ersten Ehemann lebt sie ab 1964 in Ankara und übersetzt zahlreiche Werke deutschsprachiger Autoren, darunter Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger und Franz Kafka.
Sterben, um zu leben, leben, um zu sterben – zwischen Elektroschocks und Literatur
Ihr Zweifel an der Gesellschaft und an ihrer Identität und ihre Hinwendung zu den „Toten“ verflechten sich zu einer Ausweglosigkeit. Mit achtzehn Jahren versucht Tezer das erste Mal, sich das Leben zu nehmen. Unmittelbar danach wird ihr eine bipolare Störung diagnostiziert und ihre fragile Seele mit Elektroschocks behandelt.
Ihre erste Ehe mit Güner Sümer scheitert; sie findet nicht Liebe, Geborgenheit, den Frieden. „Warum können wir Krisen nicht bewältigen? Warum sind wir so bestrebt, Mann und Frau, Ehefrau und Ehemann zu sein, bevor wir überhaupt Freunde geworden sind?“ (Anm. d. Red.: eigene Übersetzung), schreibt sie in dieser Zeit des Bruchs. Zwischen 1967 und 1972 unternimmt sie weitere Selbstmordversuche und verbringt mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. Ihre zweite Ehe mit dem Regisseur Erden Kiral, in der ihre Tochter Deniz geboren wird, scheitert ebenfalls. Für den Namen ihres Kindes wurde sie inspiriert von Deniz Gezmiş, einer Symbolfigur der türkischen 1968er-Bewegung.
In ihrem ersten autobiografisch geprägten Roman Die kalten Nächte der Kindheit verarbeitet Tezer Erlebnisse ihrer Kindheit und auch die zermürbenden Erfahrungen der Psychiatrie. Anfang der 1980er Jahre kommt sie als DAAD-Stipendiatin schließlich nach Berlin, wo sie ihren zweiten Roman Auf den Spuren eines Selbstmords auf Deutsch verfasst und veröffentlicht. Ihre Werke sind intim. Unerschrocken und furchtlos offenbart sie Gedanken und Gefühle in ihrer Blöße und lässt uns als Leser*innen in ihre Innenwelt eintauchen. Sie lesen sich als eine Art Abrechnung mit der Welt, der Gesellschaft, mit rigiden und schablonenhaften Urteilen.
Ein Begriff, der ihren Zustand passend beschreiben könnte, ist „Monachopsis“: ein Gefühl, nirgendshin zu gehören, am falschen Ort zu sein; das Gefühl der Heimatlosigkeit, welches vor allem aus ihrer Verachtung und Sorge angesichts der prekären politischen Lage ihrer Heimat in den 1960er und 70er Jahren stammt. In Auf den Spuren eines Selbstmords schreibt sie prägnant: „Eure Ordnung, euer Verständnis von Vernunft, Ehre und Erfolg ist unvereinbar mit meinen Ansichten. … Mein Leben lang habt ihr mich gequält. Mit eurem Zuhause, euren Schulen, euren Arbeitsplätzen. Mit euren privaten oder öffentlichen Einrichtungen habt ihr mich gequält. Sterben wollte ich, doch ihr habt mich wiederbeleben lassen. Ich wollte schreiben, doch ihr sagtet, ich würde hungern. Ich versuchte zu hungern, doch ihr habt mir Serum gegeben. Ich wurde verrückt, ihr verpasstet mir Elektroschocks.“ (Anm. d. Red.: eigene Übersetzung)
Schreiben, um zu leben
Zuflucht vor Zweifeln findet Tezer in ihrem Schreiben. Sie muss regelrecht schreiben, um nicht verrückt zu werden. Ihre Zeilen reflektieren diese innere Zerrissenheit und ihren stetigen Kampf mit ihrer psychischen Erkrankung. So schreibt sie über ihr Leben, um sich aus dieser Beklommenheit zu befreien, sich Platz zu schaffen und um Leben zu finden. Sie schreibt, um das Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit zu überwältigen. Nur so konnte sie die Welt erdulden: „Dieses Leben erfüllt mich nur dann, wenn ich die in mir wehenden Winde, die liebenden Lieben, den in mir sterbenden Tod, das Leben, das aus mir hinaussprudeln will, in Worte umwandeln und die Worte sich mit diesem Wind, Tod und dieser Liebe annähern kann. Sonst nichts.“ (Anm. d. Red.: eigene Übersetzung)
In Berlin trifft sie auf ihre letzte große Liebe, den zehn Jahre jüngeren Hans Peter Marti. Sie findet Geborgenheit, nach der sie sich so sehnte, und 1984 heiraten sie in Zürich. Auch diese Beziehung ist von kurzlebiger Natur. Tezer erkrankt an Brustkrebs, und ein Jahr nach der Diagnose erliegt sie dem Kampf und stirbt am 18. Februar 1986 einsam in einem Hotelzimmer.
Tezer Özlü schied leise aus dem Leben, doch hinterlassen ihre Worten Schall und Wahn. Sie sah sich stets als rastlose Seele, die niemandem gehörte und niemanden besaß. Sie war eine freiheitsliebende und leidenschaftliche Frau, die sich nicht fürchtete, an ihre Grenzen zu gehen, ihre Verwundbarkeit zu offenbaren und diese niederzuschreiben, um zu fühlen, zu atmen, zu leben. Sie war alles – aber eine Prinzessin war sie nicht.
Text: Merve Bayar