Wonach sehnt sich das Herz eines türkischen Gastarbeiterkindes? Wohin gehört dieses Herz? In Baha Güngörs Brust schlagen zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches.
In seinem autobiografischen Manuskript Hüzün – das heißt Sehnsucht, führt uns der Autor auf seinen Lebensweg, der sich durch Abenteuer, politische Geschehnisse, Liebe und vor allem der großen Frage seines Lebens – seine Identität und Zugehörigkeit, auszeichnet.
Zwei Herzen
Güngör (geb. 1950) nimmt die Leserin und den Leser mit auf eine Zeitreise durch die deutsche und türkische Geschichte, vom Beginn des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei, bis heute. Als journalistischer Begleiter Helmut Kohls, Interviewpartner Willy Brandts oder Tischnachbar Sakıp Sabancıs, gewährt Güngör innen- und außenpolitische Einblicke aus erster Hand.
Das Herz des Buches jedoch widmet sich der inneren Zerrissenheit Baha Güngörs. Sie umrahmen seine Lebensentscheidungen und jedes historische Ereignis, zu dem er seine Leserin und seinen Leser mitnimmt. Er lässt tief hineinblicken in seinen inneren Konflikt, das ewige Gefühl des hin- und hergerissen seins zwischen Deutschland und der Türkei – „Der Deutsche in mir, der Türke in mir“, „Meine beiden Herzen“, „Verdammte Doppelidentität“…
Beginnend mit der Einreise aus Istanbul (1961 ) nach Aachen, aus den Augen eines 11-jährigen Jungen, entwickelt sich Bahaa, der kein einziges Wort Deutsch konnte, zu einem in Deutschland und in der Türkei anerkannten Journalisten. Es wird deutlich über die Jahre, wie er „immer deutscher“ wird. Er beginnt die Türkei als „fremde Heimat“ zu bezeichnen und geht soweit sich zu fragen, ob die deutsche Nazi Vergangenheit nun auch seine Vergangenheit sei.
Als es ihn beruflich wieder zurück in die Türkei verschlägt, holt ihn die Zerrissenheit auch dort ein, denn die einstige Heimat ist ihm fremd geworden. Und seine beiden Herzen schlagen wieder in Disharmonie.
„Und ich? Wohin gehöre ich? (…) Kann man seiner Herkunft entkommen? Wollte ich das überhaupt? Nein? Ja? Oder durfte ich es nicht? Ach, ich weiß nicht mehr.“
Die Vollendung
Das Buch nimmt mit dem Tod Bahaa Güngörs im November 2018 eine Wende, als seine langjährige Freundin und Wegbegleiterin, die Politikerin Lale Akgün, die Vollendung des Manuskripts übernimmt. In einem fiktiven Gespräch entfacht eine lebhafte Diskussion über Zugehörigkeit, Entwurzelung, Mesut Özil, Importbräute und Freundschaft. In diesem Teil erfährt die Leserin und der Leser mehr über das Privatleben des Journalisten, worüber, als einziger Wermutstropfen, nicht viel preisgegeben wird.
Hüzün – das heißt Sehnsucht ist ein wundervolles Buch, das den Deutschen und den Türken aufs Korn nimmt, ohne die Sehnsucht und die Würde des Themas zu beleidigen. Es gelingt Güngör das paradoxe Gefühl der Gastarbeiterkinder widerzuspiegeln: die allmähliche, sich unbewusst einschleichende Trennung von der einstigen, geliebten Heimat.
Und das gleichzeitig einhergehende, immerwährende Gefühl der Fremdheit in der Neuen. Beide Gefühle gehen in Bahaa Güngörs Bewusstsein Hand in Hand und begleiten ihn sein Leben lang. Mit viel Witz und viel Hüzün erzählt Güngör von den zwei Herzen in seiner Brust, die einander übertönen wollen, jedoch selten im Einklang schlagen.
Baha Güngör / Lale Akgün: Hüzün… Das heißt Sehnsucht – Wie wir Deutsche wurden und Türken blieben. Der Roman erschien 2019 im Dietz-Verlag.
Text: Banu Pınar
Bilder: Mit freundlicher Genehmigung des Dietz-Verlags.