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Gesellschaft & Geschichten

Über den politischen Machtkampf des Regenbogens in Istanbul

Zerrissen zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Gender Identity

Angefangen von den jüngsten Aufständen in Istanbul im Rahmen des Pride Month der LGBTQIA*-Community und deren friedlichen veganen Picknicks, welche mit polizeilicher Gewalt geräumt werden mussten, bis hin zum Austritt aus der Istanbul-Konvention. Diese Vorfälle sind nur eine kleine Auswahl an skandalösen Ereignissen, die sich in den letzten Wochen in Istanbul abgespielt und somit den Kampf gegen die Diskriminierung der LGBTQIA*-Community und Frauen erschwert haben. Davon bekommen wir aus der Ferne nur bruchstückhaft etwas mit. Genau aus diesem Anlass sind wir mit dem Schriftsteller und Journalisten Güney Güneyan aus Istanbul zusammengekommen. Wir wollen von ihm, als Beobachter und Pressesprecher der LGBTQIA*-Community, mehr über die Geschehnisse während des Pride-Month-Laufs in Istanbul sowie der aktuellen Lage in der Türkei erfahren. In unserem Gespräch teilt er uns seine Erfahrungen und das gesellschaftliche Problem mit den Geschlechtern in der Türkei mit.

Wer ist Güney Güneyan? Wie definiert er sich?

©Kübra Karaçay

Höchstwahrscheinlich ist das die schwierigste Frage, mit der er sich je auseinandersetzen musste: Mit jedem vergangenen Moment lerne ich mehr und Neues über mich selbst kennen. Ich würde mich als Menschen, der verliebt in die Ruhe, besessen von der Einsamkeit und auf die Natürlichkeit bedacht ist, beschreiben. Jemand der die Welt in Pastell-Tönen sieht, kleinen Glücksmomenten hinterherläuft und dabei noch als große-Träume-habender Realisten bezeichnet werden kann. Außerdem bin ich jemand, der durchs Schweigen dennoch verstanden wird, der bestrebt ist, tugendhaft zu sein und dabei etwas gereizt wirkt, aber doch immer in Gedanken schwelgt. Wenn man all diese menschlichen Eigenschaften beiseitelegt, bin ich jemand der seinen Beruf als Journalist und Schriftsteller ausübt.

Bereits in jungen Jahren hast du bei vielen Publikationen und unterschiedlichen Projekten mitgewirkt. Wie kam es dazu? Wie hat sich der Weg dorthin gestaltet?

Die Geschichte meines Berufseinstiegs hat mit dem Gastauftritt bei einer Radiosendung an der Istanbul Universitätbegonnen. Jedes Mal, wenn ich über den genauen Grund meiner Berufswahl rede, stimmt es mich traurig, da es mit einem gesellschaftlich traurigen Ereignis verbunden ist. Anlass war das Attentat an Hrant Dink, das am 19. Oktober 2007 vor dem Gebäude des Zeitungsverlags Agos verübt wurde und ich das prägende Bild seines durchlöcherten Schuhs sah. Obwohl ich damals noch ein Kind war, wusste ich sofort: „Das ist der Beruf, den ich machen will!“. Angefangen habe ich zuerst bei lokalen Zeitungen. Danach wollte ich selbständig und unabhängig sein und habe das Gesellschafts- und Kulturmagazin Komplike (dt. kompliziert) gegründet. Die Arbeit des Verlagswesens ist in der Türkei sehr schwer. Wir konnten uns leider nicht über Wasser halten. So wechselten wir zu einem digitalen Format. Nach zwei Jahren bestehen und pandemiebedingt, haben wir die Arbeit vor ein paar Monate niedergelegt. Aktuell schreibe ich für die nationale Presse. Die eine Hälfte von mir ist Publizist und die andere Journalist…

Es gibt zwei Veröffentlichungen von dir. Das erste Buch heißt “Nepotizm Hipotezi: Sosyal Dışlanma ve Yoksulluk” (dt. Die Vetternwirtschaftshypothese: Soziale Ausgrenzung und Armut) und hat einen wissenschaftsanalytischen sowie investigativen Ansatz, und das zweite Werk “Müstakil Beden” (dt. unabhängiger/privater/selbstständiger Körper), das einem Gedichtband ähnelt. Welche Resonanzen haben beide Bücher erhalten?

©Kübra Karaçay

Ehrlich gesagt werden manche Bücher nicht für das Hier und Jetzt, sondern für die Zukunft geschrieben. Die Arbeit an meinem Werk “Nepotizm Hipotezi“ (dt. Vetternwirtschaftshypothese) würde ich als solches bezeichnen. Ich habe die politische Atmosphäre der Türkei und die daraus Vetternwirtschaftsfälle genauer unter die Lupe genommen. Im ersten Unterkapitel meiner Forschungsarbeit habe ich die soziale Ausgrenzung und Armut analysiert. Ich habe arme Viertel besucht und mit den Menschen vor Ort geredet. Auch ihre Sorgen habe ich mir angehört und ihre negative Stigmatisierung in der Öffentlichkeit verfolgt. All das habe ich schriftlich dokumentiert. Sogar meine persönlich erlebten Vetternwirtschaftsfälle habe ich ausführlich zu meinen Dokumentationen hinzugefügt. Ich wollte, dass die Bücher an die ungerechten Umstände erinnern, da der Mensch dazu neigt diese schnell zu vergessen. Nachdem ich mit dem Werk fertig war, haben sich weitere solcher Fälle ereignet – es ist wie ein Fass ohne Boden. Letztes Jahr habe ich meinen ersten Gedichtband veröffentlicht und dabei einen Bogen um das Politische gemacht. Auch wenn es nur ein unpolitisches Gedicht ist, so möchte ich in Zukunft auch politische Gedichte schreiben.

Ich habe gehört, dass dieses Jahr ein neues Werk von dir erscheinen soll. Was wird uns in naher Zukunft noch erwarten?

Ja, dieses Jahr komm ein neues Werk von mir raus und wird “Prekarya: Özgür Köleler” (dt. Prekariat: Freie Sklaven) heißen. Dabei wird es erneut einen investigativen Schwerpunkt haben. Es steht schon bereits in den Startlöchern. Aktuell werden redaktionelle Feinschliffe gemacht und danach erfolgt der Print. Anschließend wird es endlich seinem eigentlichen Publikum vorgestellt – nämlich der Leserschaft.

Du magst es wohl sehr, die politische Luft in der Türkei einzuatmen, nicht wahr?

Ja, selbstverständlich. Ich verstehe es auch nicht, warum Sozialwissenschaftler*innen aus allen vier Ecken des Landes noch so viel Zeit verlieren. Das eigentliche Phänomen ist doch die Türkei. Gerade hier sind so viele unterschiedliche Fälle zu beobachten. Wenn man genau hinschaut, sieht man diese Vielfalt, aber ich denke es hat dann halt wohl was mit den gelebten Begebenheiten hier zu tun, warum alles unerforscht bleibt.

Alles, was sich aktuell in der Türkei abspielt, bekommen wir in Deutschland nur aus der Ferne mit. Dementsprechend ist ein Austausch mit dir sehr wichtig und wertvoll. In den vergangenen Tagen und Wochen wurde im Landrat von Beyoğlu entschieden, dass anlässlich des Pride Month keine LGBTQIA* Demos in Istanbul stattfinden dürfen. Eine Kundgebung fand dennoch statt und du warst als Pressemitglied direkt vor Ort. Kannst du uns über die Geschehnisse ausführlicher berichten?

Wir ihr schon wisst, werden seit Jahren LGBTQIA*-Veranstaltungen von der Regierung verboten. In der Vergangenheit gab es dahingehend schon mal Ausnahmen, die eher für Propagandazwecke der aktuellen Regierung dienen sollten. Dementsprechend verwiesen sie immer wieder auf diese Ausnahmen und stellten sich als tolerant dar. Aber heute sieht die Lage ganz anders aus. Die aktuelle Regierung lässt ihre Abneigung gegenüber einem toleranten und diversen Lifestyle durch Unterdrückung und Gewalt spüren. Hinzukommt, dass die Stimmverluste bei den Umfragewerten, die kommenden Wahlen und die wirtschaftliche Krise alles beschleunigt. Folglich wird jede Berichterstattung über die schlechten Verhältnisse in der Türkei an den Pranger gestellt. Während die Berichterstatter*innen über die Türkei berichten wollen, werden sie selbst zur Zielscheibe. Wenn man sich die Amtszeit der AKP-Regierung von der Vergangenheit bis heute vor Augen führt, kann man klar eine autokratische und politisch aufgeheizte Linie erkennen. In solch einer Lage befinden wir uns.

Alles und alle Menschen in der Türkei hängen an einem seidenen Faden. Jede Macht geht nur von einer Person aus. Es ist so, als ob man sich in einer Stierkampfarena befinden würde – ein Zustand, der außer Kontrolle ist.

Die Regierung ist wie ein Stier, der farbenblind ist und es noch nicht mal bemerkt und die Welt nur durch Scheuklappen sieht. Man sollte auch nicht vergessen, dass Macht eine giftige Wirkung hat. Alle Restriktionen, die mit Gewalt durchgesetzt wurden, von der LGBTQI+-Kundgebung bis hin zum Austritt der Istanbul Konvention, ist die Demonstration seiner Macht und dient zur Zufriedenstellung seiner eigenen konservativen Wählerbasis. Insbesondere das Engagement der LGBTQIA*-Community bekommt dies sehr schmerzhaft zu spüren. Der Versammlungsort Taksim ist gesperrt, in Odakule werden öffentlichen Reden verboten, in den bekannten Straßen Pera und Mis Sokak fanden unzählige Festnahmen statt. Es wird mit Plastikmunitionen gefeuert, Personen werden zu Boden gezerrt. Menschen, die vor einem Café sitzen, werden festgenommen. Was jedoch besonders hervorstach, war die polizeiliche Festnahme des weltweit bekannten AFP Fotografen Bülent Kılıç. Dieser Akt sollte als Warnung und Drohung für alle anwesenden Menschen und Journalist*innen verstanden werden.

An diesem Punkt kann man wohl nicht mehr von freier Presse sprechen, oder? Erscheint der Ausweg unmöglich?

Man versucht die freie Presse zu einer unausstehlichen, eingeschüchterten, assimilierten und nutzlosen Vereinigung zu formen. Und darin haben sie sogar Erfolg. Es gibt nur noch sehr wenige freie und unabhängige Nachrichtenagenturen. Die Medien sind mehrheitlich gleichgeschaltet und sprechen nur noch eine Sprache. Die Alten erzählen, dass es früher die Bezeichnung „Medien aus dem Zentrum der Gesellschaft“ gab. Heute sei davon nichts mehr übrig.

Heutzutage werden regierungsnahe Journalist*innen mit Luxus und Reichtum belohnt und die Übrigen mit Gefängnistrafen und langen Gerichtsverfahren bedroht. Eine Verrohung in einem verfaulten System ist nun die neue Realität.

Auch wenn in der Türkei niemand den Fotografen Bülent Kılıç kennt, den polizeilichen Behörden ist er wohl bekannt. Bei der LGBTQIA*-Kundgebung haben sich die Polizisten auf ihn gestürzt und mit dem Knie auf seinen Hals gedrückt – man wusste, wem man diese Gewalt antat. Wir waren alle zu diesem Zeitpunkt da und haben den Fall gesehen, auch wenn es für Bülent Kılıç unglimpflich ausging, er hätte dennoch draufgehen können. Erscheint der Gedanke, während der Arbeit einer wichtigen Berichterstattung zu sterben, nicht absurd? Darüber zu sprechen ist leicht, aber er hätte sterben können. Folglich möchte ich noch einmal deutlich sagen, dass die Lage der Menschen und die Arbeit von Journalist:innen in der Türkei komplett aus dem Ruder gelaufen ist.

Auch das vegane Picknick anlässlich der Pride Month im Maçka Park wurde verboten und von der Polizei gewaltsam geräumt. Auch wenn man dafür keine logische Antwort parat hat, was genau und warum wurde es verboten?

In der Türkei ist der blanke Hass in allen Bereichen sichtbar. Dies ist eine äußerst gefährliche Lage. Als Gesellschaft neigt man allzu oft dazu vieles auszublenden. Moscheen werden zu Orten einer politischen Arena. Man möchte Stimmen sammeln und eine Opposition bilden. Letztes Jahr hatte der Vorsitzende des Amtes für religiöse Angelegenheiten Ali Erbaş bei einem Freitagsgebet über Homosexualität gesprochen. Bei seiner Ansprache hatte er die Homosexualität im Zusammenhang mit diversen Krankheiten kritisiert. Was an dem Tag von ihm verlautbart wurde, hatte sich in kürzester Zeit in physische und psychische Gewalt sowie gesellschaftliche Ächtung ausgedrückt. Alle Verbote, Hindernisse, Gewalttaten und Zwänge sind politisch gewollt. Solche Hassreden prägen die Gesellschaft ganz tief im Inneren und verursachen eine Abstumpfung der Gefühle. Das gleicht schon einem politischen Fanatismus, der gesellschaftlich keinen Nutzen bringt, aber dennoch geduldet wird, sowie Anhängerschaft generiert. Aus diesem Grund wurde das Picknick verboten und weitere Hindernisse geschaffen, dem letztendlich eine fanatische Glaubensideologie zugrunde liegt. Nur weil einige einen anderen Lebensstil nicht mit ihren Überzeugungen vereinbaren können, leiden andere darunter und werden vom gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgeschlossen. Sie werden ausgegrenzt, weil sie anders sind, obwohl diejenigen, die das tuen, eigentlich selbst eine diverse Gesellschaft ablehnen. Man kann ihnen (LGBTQIA*-Community) bis zu einem gewissen Grad auch recht geben, denn sie kämpfen um ihr Recht auf Leben und Freiheit, die von einer gewaltbereiten Bande eingeschränkt wird. Nichtsdestotrotz sind in vielen Studien belegt worden, dass sich die Einstellung der Gesellschaft zum Thema Homosexualität sowie gleichgeschlechtliche Partnerschaften gewandelt hat. Genau dieser gesellschaftliche Paradigmenwechsel muss strengstens überwacht und mit gewaltsamen Mitteln bekämpft werden. Eigentlich möchte man diesen gesellschaftlichen Wandel im Keim ersticken.

©Kübra Karaçay

Bei seiner Rede über den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention hat Erdoğan beteuert, dass die Bekämpfung der Gewalt an Frauen nicht erst mit dem Beschluss begonnen hat und auch nicht nach dem Ausscheiden enden wird. Wie schätzt du die Lage zur Prävention von Gewalt an Frauen in der Türkei ein?

Die Istanbul-Konvention richtet sich gezielt gegen die Gewalt an Frauen und bietet zudem Schutz vor häuslicher Gewalt für alle Beteiligten innerhalb der Familie an. Die Austrittsentscheidung hat die internationale Beteiligung bei der Prävention von Gewalt an Frauen außer Gefecht gesetzt. Diese Vereinbarung wurde bisher nur als umsetzbare Absichtserklärung betrachtet und politisiert. Rechte Politiker:innen und radikale Islamist:innen deklarierten sogar den Vertrag zum Sündenbock, da er für den Aufschrei der Frauen in der Türkei verantwortlich gemacht wurde. Einige meinen, dass erst nach der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention ein Anstieg an Gewalttaten zu beobachten war. Diese Wahrnehmung täuscht und stimmt so nicht, denn davor und danach nimmt die Gewalt an Frauen rapide zu. Das eigentliche Problem liegt in der Tatsache begründet, dass die Vereinbarung eine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern vorsieht. Genau das hat in streng religiösen Kreisen sehr viel Unmut auf sich gezogen. Jedoch sollte man religiöse Kreise nicht allzu eng betrachten, da es auch innerhalb dieser Gemeinschaft eine Zustimmung der Konvention und Unterstützer:innen gibt. Als Gegner der Vereinbarung werden patriarchalisch Gesinnte sowie radikale Islamist:innen betrachtet. Man befürchtet, dass die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau dazu führt, dass Frauen mehr Macht und Rechte beanspruchen und eine huldigende Kultur demzufolge abhandenkommt. Natürlich bedeutet dies ein Kontrollverlust, was jedoch auch in anderen Ländern dieser Welt als Gesinnung zu beobachten ist. Alles was Erdoğansagt und entscheidet, liegt ganz allein in der Macht einer einzigen Person. Er kann sagen und tun, was er möchte – man setzt seine Anordnung und Befehle sofort um. Seine Sorglosigkeit kennt keine Konsequenzen. Aber ich bin zuversichtlich, dass der Tag kommen wird, an dem er abdankt und die neue Regierung als erstes den Austritt aus der Istanbul-Konvention rückgängig machen wird.

Wie können wir als im Ausland lebenden Individuen euch unterstützen? Wie kann Europa Hilfe leisten? Oder besser gefragt, ist dies überhaupt möglich?

©Kübra Karaçay

Meiner Meinung nach ist eine Hilfe nicht möglich. Es wird eine Diktatur unterm Denkmal der Demokratie ausgeübt. Aus diesem Grund ist die derzeitige Regierung zu nichts verpflichtet. Man ist verschlossen gegenüber neuen Perspektiven und hält an der eigenen Meinung fest. Aus diesem Grund laufen Verhandlungsgespräche ins Leere. Es müssen sich viele Dinge ändern. An erster Stelle die jetzige Regierung. Solange die amtierende Regierung nicht zurücktritt, findet keine Veränderung in der Türkei statt. Daher kann auch aktuell kein vernünftiger Dialog mit der Türkei zustande kommen. Wir befinden uns gerade in einer Phase, in der die türkische Regierung die Ohren und Augen zuhält.

Eine Frau zu sein ist nicht nur in der Türkei schwer, sondern auch weltweit eine Bürde. Ich denke, dass wir da gleicher Meinung sind. Aber diesmal möchte ich mit dir über die Schwierigkeit, ein Mann zu sein, sprechen. Welchem Druck sind Männer ausgesetzt? Würdest du deine Erfahrungen und Beobachtungen mit uns teilen?

Ehrlich gesagt bin sehr erfreut über deine Frage, weil sie mir bisher noch keiner gestellt hat und ich gerne darüber sprechen möchte. Es herrscht die weitverbreitete Vorstellung, dass sowohl Männer als auch Frauen optisch immer perfekt aussehen müssen. Der Perfektionismus-Druck schleicht sich in unsere Gedanken ein und man hat Bedenken über die eigene Ästhetik. Auch wenn ich der Ansicht bin, dass gesund zu sein und fit auszusehen ein erstrebenswertes Ziel und ein angenehmer Zustand ist, so habe ich doch manchmal persönlich den Druck, dass ich mit solch einer positiven Einstellung hadere. Die meiste Zeit verbringe ich mit Arbeiten. Ein perfektes Zeitmanagement zu haben fällt mir dabei oft sehr schwer. So kann ich sogar für Dinge, die ich gerne mache, keine Zeit mehr finden. Um es noch deftiger auszudrücken – ich finde sogar kaum noch die Zeit, mich am Kopf zu kratzen. Je mehr ich mich von der gesellschaftlich aufoktroyierten Vorstellung eines perfekten Mannes distanziere, umso mehr ernte ich Kritik. Ich werde als Schwächling abgestempelt und als schlaksig bezeichnet. Dadurch werde ich immer als queere Person wahrgenommen, obwohl ich doch eigentlich heterosexuell bin. Erst abends beim Ausgehen nähern sich mir die Frauen und merken, dass ich auf sie stehe. Man fordert von mir, dass ich mich physisch weiterentwickle bzw. muskulöser werden soll, statt meinen Horizont zu erweitern.

„Man fordert von mir, dass ich mich physisch weiterentwickle bzw. muskulöser werden soll, statt meinen Horizont zu erweitern.“ – Könntest du bitte diesen Satz genauer ausführen?

Als ich meine Prioritäten im Leben hinterfragt habe, bin ich zu dieser Annahme gelangt. Ich war immer der Meinung, dass es total idiotisch sei, in ein überfülltes Fitnessstudio zu gehen und sich stundenlang Muskeln anzutrainieren. Aber dann war ich so erschöpft davon, dass man mich allein wegen meines Köpers als Mann bewertet und dachte mir: „jetzt muss ich weniger schlafen, arbeiten und lesen, um maskuliner wirken zu können! Ich sollte jetzt mehr Muskeln aufbauen!“. Dieser Sinneswandel kam aber nicht nur von außen, sondern auch ich war sehr unzufrieden mit mir selbst und seitdem ich angefangen habe, zu trainieren, fühle ich mich auch in meinem eigenen Köper wohler. Vielleicht hat all die Kritik auch einen positiven Effekt gehabt, denn ich sehe vieles nicht mehr so streng. Sich verändern zu wollen hat mir mehr Dynamik und den Willen, über mich hinauszuwachsen gegeben. In der Vergangenheit habe auch ich bestimmt jemanden unbeabsichtigt kritisiert und diese Person wegen seinem/ihrem ungesunden Lebensstil aufmerksam gemacht. Damit habe ich jedoch nicht verlangt, dass man sich den Erwartungen der Gesellschaft beugt und deshalb persönlich ändert – das sollte schon differenziert betrachtet werden. Schlussendlich liebe ich meinen Körper und verändere mich zugleich.

Text: Dilek Kalın (dt) & Berivan Kaya (tr)
Lektorat: Deniz Lara Zimmermann
Fotos: Kübra Karaçay

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