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Kunst & Design

„Die Zukunft gehört den Romantischen“

Fotografin Dilan Bozyel im Interview

„Ich habe Differenzierungen satt. Hört auf, mich mit Begrifflichkeiten zu definieren und einzugliedern. Ich bin nur ein Körper, der ein Herz hat. Weder habe ich Farbe noch Domäne noch Geschlecht. Ich habe eure Definitionen satt, mit denen ihr Unterscheidungen hervorhebt und Ausgrenzungen verursacht. Ich bin nur ein Körper, der ein Herz hat.“

Diese (ursprünglich auf Kurdisch verfassten) Worte schreibt Dilan Bozyel mit Gouachefarbe, die sie mit ihrer Spucke und ihrem Periodenblut vermischt, auf ihr Werk, welches sie für eine Kunstsammlung anfertigt. Ihr Name fiel unter die Kategorie „Zeitgenössische Kurdische Künstler*innen“. So geschah es immer. Entweder erwähnte man ihre ethnischen Wurzeln oder ihr Geschlecht – selten standen ihre künstlerischen Tätigkeiten im Vordergrund.

Dilan Bozyel. Ist in erster Linie Mensch. Sie hat sich beruflich für die Fotografie und das Schreiben entschieden. Zurzeit lebt sie in Istanbul. Mit ihrer Kunst sowie ihrem Auftreten stellt sie sich gegen jede Art der Diskriminierung und schreibt sich Antirassismus und Feminismus auf die Fahnen.

Foto: Dilan Bozyel

Wie kamst du zur Fotografie?

Im Alter von 22-23 Jahren trat die Fotografie in mein Leben. Auslöser für das Interesse waren die Bilder von der Künstlerin Diane Arbus. Danach setzte ich mich mit Selbstporträts in der Kunstgeschichte auseinander und porträtierte mich ein Jahr lang selbst. Die Selbstporträt-Reihe schickte ich zu einer Fotoakademie in London und wurde dort schließlich angenommen. Als ich diese Reihe aufnahm, befand ich mich aufgrund einer Tuberkulose-Therapie in einem Zimmer in Quarantäne. Also kurzgefasst: Ich begann mit der Fotografie mit der Erkenntnis, dass sie mich heilte.

Während deines Aufenthalts in London hast du sicherlich auch schöne und/oder schwierige Erfahrungen sammeln können, die das Leben in einem fremden Land mit sich bringen. Könntest du einige deiner Erfahrungen mit uns teilen?

Ich verbrachte fast vier Jahre in London. Danach folgten zahlreiche Reisen mit längeren Aufenthalten im Nahen Osten und in Europa, die schließlich mit der Rückkehr nach Istanbul endeten. Mit den Gedichten von Arthur Rimbaud in der Tasche wurde ich zu einer Wanderin. Zurzeit lebe ich in Istanbul. Die Frage, was das Leben in einem fremden Land bedeutet, kann ich schwer beantworten. Erstaunlicherweise fühle ich mich überall wie eine Einheimische, weil ich mich recht schnell anpassen kann. So spielt es keine Rolle, ob ich mich im Nahen Osten oder in einem europäischen Land befinde. Auch innerhalb verschiedener Kulturen habe ich keine Schwierigkeiten. Das mag vielleicht daran liegen, dass ich in zwei unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen bin. Meine Mutter kommt aus der zyprischen Hafenstadt Limassol und mein Vater aus dem Stadtteil Lice in Diyarbakır. Eigentlich war ich schon während meines Aufwachsens in Diyarbakır als auch in der Zeit, als ich im Ausland lebte, eine Fremde. Vielleicht fühle ich mich durch eine Art Methode der paradoxen Intervention überall einheimisch. Ich würde mich daher als ein Weltmensch betrachten. Und klar kommt es vor, dass man im Westen als Türkeistämmige Ausgrenzungen erfährt. Da ich es aber in der Türkei gewohnt bin, aufgrund meiner ethnischen Wurzeln, meines Geschlechts und meiner Ideologie ausgegrenzt zu werden, nahm ich die Ausgrenzungserfahrung im Ausland nicht weiter persönlich und ging meinen gewohnten Weg weiter.

Welche Rolle spielt das Schreiben in deinem Leben?

Die Faszination fürs Schreiben trat sogar noch vor der Freude des Fotografierens in mein Leben. Als ein Kind mit einer äußerst ausgeprägten Fantasiewelt fing ich irgendwann an, meine Illusionen niederzuschreiben. In meiner Schulzeit gewann ich sogar mehrere Preise bei Schreibwettbewerben. Während meines Studiums in Istanbul arbeitete ich nebenbei für diverse Musikmagazine. So schrieb ich Rezensionen zu Musik, Alben sowie Konzerten und führte Interviews mit Musiker*innen. Erst später trat die Fotografie in mein Leben. Ich fing an, meine Fotografien als Hauptspeise meines kreativen Schaffens zu servieren. Die Geschichten zu den Fotografien waren eher wie eine Meze (dt. Vorspeise) oder ein Aperitif. Für mich ist die Fotografie und das Schreiben das perfekte Kommunikationsmittel, um Gedanken und Gefühle auszudrücken.

Das Gesprochene verfliegt, das Geschriebene bleibt und die Fotografie dokumentiert.

Foto: Dilan Bozyel

Du sagst, dass du überall wie eine Einheimische lebst. Welche Unterschiede konntest du während deiner Aufenthalte in Paris und Beirut beobachten?

Da Beirut auch frankofon geprägt ist, konzentrierte ich mich eher auf die Gemeinsamkeiten. Bei dieser Frage kommen mir jetzt gerade die einheimischen Frauen beider Städte in den Sinn. Während die Beiruterinnen dafür kämpfen, an Stärke zu gewinnen, empfinden die Pariserinnen aufgrund der Bewusstheit ihrer bereits vorhandenen Stärke Wohlbehagen und Gleichmut. Mir ist aufgefallen, dass sich die Menschen in Europa zuhören – auch wenn sie schon ihre Antworten parat haben. Im Nahen Osten ist man darauf fixiert, die Thesen der Anderen zu widerlegen, ohne ihnen erst einmal zuzuhören. Mit was für merkwürdigen Kodierungen wir aufwachsen, oder?

Wie hat dich dein Geburtsort Diyarbakir geprägt und welche Lebenserfahrung hast du dort mitgenommen?

Ich sage das jetzt nicht, um Diyarbakır schön zu reden, denn schließlich ist jedermanns und jederfraus Heimat etwas Besonderes. Diyarbakır ist die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Dort lernte ich, was Farbe, Klang, Frieden, Kampf, Stein, Erde und Geruch eigentlich bedeutet. Auch lernte ich dort das Schöne und gleichzeitig das Erbärmliche im Leben kennen, in dem sich auch das Richtige sowie das Falsche zu Fühlen Ausdruck fand. Dementsprechend bin ich stolz auf die immateriellen Werte, die mir diese Stadt mitgegeben hat. Diyarbakır ist der Grund, warum jeder Atemzug von mir politisch ist. Sie ist aber auch der Grund, warum ich nicht an die Wirkungskraft der Politik glaube. Diese Einstellung hat nichts mit dem dortigen politischen Widerstand zu tun. Es liegt eher daran, gesehen und erlebt zu haben, was die Politik des Landes den Menschen antut.

Ich bin eine dreiste Humanistin, die die Meinung vertritt, dass ein politischer Widerstand mehr an Liebe und Versöhnung orientiert sein sollte.

Hast du in deinem Job aufgrund deiner ethnischen Wurzeln oder deines Geschlechts Ausgrenzung erfahren?

Mittlerweile bin ich dagegen immun! Ich bin nicht nur in meinem Job Diskriminierungen ausgesetzt, sondern wurde und werde immer noch bei jedem Schritt in meinem Leben damit konfrontiert. Auch heute noch versuchen Menschen alles zu definieren: „Wer bist du?“ „Was bist du?“ „Woher kommst du?“ „Hast du Brüste?“ „Hast du lange Haare?“ „Bist du Jungfrau?“ „Bist du ledig?“. Anhand solcher und noch weiteren sinnlosen Fragen versuchen sie Antworten zu finden. Da sie voreinander Angst haben, versuchen sie mit solchen Fragen einen Menschen so schnell wie möglich zu definieren und sie in Schubladen zu stecken. Es dient dazu in ihren Gedanken Ordnung zu schaffen. Ich finde diese Angst jedoch unnötig und bin der Meinung, dass wir jeden Menschen, weil er Mensch ist, begrüßen sollten und nicht für seine Attribute, die ihm zugeschrieben werden.

Wie gehst du mit diesen Gegebenheiten um?

Ich ignoriere sie, schaue in meinen Spiegel und gehe meinen gewohnten Weg weiter. Früher kränkte mich dies sehr und bis Mitte zwanzig nahm mich das sehr mit. Auf Meetings mit Marken und Agenturen, die mit mir zusammenarbeiten wollten, fragte man nach meiner politischen Einstellung. Sie wollten sogar wissen, ob ich die Sichtweise von Politiker:innen aus meiner Familie teile. Letzten Endes beginne ich meinen Tag nicht damit, in den Spiegel zu schauen und mir selbst zu sagen: „Guten Morgen, ich bin eine kurdische Frau.“ Aus diesem Grund beschäftigen mich auch tagsüber weder meine ethnischen Wurzeln noch mein Geschlecht. Es reicht mir völlig aus, dass ich mich zu einem guten Menschen entwickle.

Würdest du dein Lieblingsfoto und die Geschichte dahinter mit uns teilen?

18.11.2017, Istanbul – Ortaköy

Es ist wirklich sehr schwierig, sich nur für eins zu entscheiden. Mir kommt aber als erstes ein kürzlich in Istanbul/Ortaköy geschossenes Foto von meinem guten Freund Alper Akçay, der Semazen (dt. Drehender Derwisch) ist, in den Sinn. Das Foto wurde auch schon letzten Sommer auf der ersten Weltraumausstellung in der Geschichte veröffentlicht. Als ich das live verfolgte, zitterten sogar die Tränen in meinen Augen. Dort oben am Himmel, sehr weit entfernt von uns, wird meine Fotografie dem Universum gezeigt. Ist das nicht romantisch? In diesem Moment wurde es mir bewusst:

Die Zukunft gehört den Romantischen.

Während die Black-Lives-Matter-Bewegung auch im türkischen Netz starke Reaktionen auslöste, werden Ereignisse innerhalb des Landes nicht besonders viel angesprochen. So wurde beispielsweise kürzlich eine queere Person mit Be_hinderung drangsaliert, aber es löste keine allzu großen Reaktionen aus… Warum wird das Schweigen von vielen Menschen bevorzugt?

Ich denke schon, dass das grausame Beispiel in deiner Frage große Reaktionen ausgelöst hat, denn der Täter wurde schließlich auch verurteilt. Ich weiß nicht, welcher Punkt hierbei schlimmer zu bewerten ist – dass ein Mensch fast totgeschlagen und eine Person mit Be_hinderung ausgenutzt wurde oder, dass die ganze Aktion einen homophoben Hintergrund hatte? Es ist vielmehr als nur ein Mord. Genauso stellen auch Femizide viel mehr als nur Frauenmorde dar. Ich denke, dass wir nicht der gleichen Meinung sind, was das Schweigen angeht. So betrachte ich das Lautwerden und den Hashtag-Aktivismus als eine Trendbewegung. Es ist mittlerweile angesagt, sich von der sensiblen Seite zu zeigen. Dies ist aber auch der Weg des geringsten Widerstands und ich verstehe, was du mit Schweigen meinst. Das Land müsste langsam anfangen sich zu erheben und schneller zu bewegen, aber leider sind wir immer noch dabei, auf allen Vieren zu kriechen. Zudem finde ich, dass das Schweigen eher bei rassistischen Vorfällen zu beobachten ist. Wenn es grundsätzlich um Minderheiten oder sogar Mehrheiten, die als Minderheit bezeichnet werden, geht, scheut es den Menschen davor, sich „politischen“ Küsten anzunähern.

Schlussendlich wird der Mensch vom Bösen und die Menschlichkeit von der Angst getötet.

Foto: Dilan Bozyel

In deinen Selbstporträts, die du uns geschickt hast, sehe ich eine sexy, mutige und begehrliche Dilan, die zufrieden mit ihrem Körper zu sein scheint. Wie wolltest du dich zeigen?

Vielen Dank, aber ich denke, dass mein Mut nicht damit begrenzt ist. Eher das Gegenteil ist der Fall – ich verstecke auf diesen Fotos meine heiligen Brüste. Mein Körper hat eine ängstliche Haltung. Bei meinen Fotos, auf denen meine Kamera zu sehen ist, kommt es mir so vor, als wäre die Kamera ein Körperteil von mir. Ach ja, dann ist da noch das Bild mit dem Apfel in der Hand (lacht). Natürlich bin auch ich wie alle Frauen* die Tochter Evas, auf die sie stolz ist.

Frauen stehen auf Romantik, Männer auf Erotik. Was sagst du zu dieser Aussage? Sollte man überhaupt zwischen Mann* und Frau* unterscheiden?

Ich kenne wunderbare Männer, für die die Romantik vor der Erotik kommt. Dann kenne ich auch erbärmliche Männer, deren zweiter Vorname Erotik ist. Ich bin für eine Balance und glaube an die Notwendigkeit der Erotik innerhalb der Romantik. Denn erst so entsteht eine Leidenschaft. Es ist nicht meine Art, weder Frau* und Mann* noch Romantik und Erotik voneinander abzugrenzen.

In der Türkei wird eine Frau*, die offen ihr Verlangen nach Geschlechtsverkehr ausspricht, oft als billig oder einfach bezeichnet. Meinst du, dass es irgendwann möglich ist, diese gesellschaftliche Wahrnehmung zu ändern?

Erstaunlicherweise denkt keiner daran, dass man durch Geschlechtsverkehr entstanden ist. Hohes Verlangen bzw. Besessenheit ist in jedem Kontext gefährlich, aber dennoch hat keiner das Recht, einen Menschen auf Begriffe wie billig oder einfach zu reduzieren. In diesem Zusammenhang möchte ich die Spiegeltechnik erwähnen, zu der es viele Beispiele gibt – sei es in der Psychologie oder in der Mesnevi, in der die philosophischen Gedanken Mevlanas erhalten sind. Ich wiederhole ständig Folgendes: Im gleichen Zeitabschnitt gibt es zwei Arten von Menschen – die Guten und die Bösen. Damit sich die Wahrnehmung eines Menschen, der ein großes Verlangen nach Geschlechtsverkehr hat und gewisse Attribute zugeschrieben bekommt, ändern kann, sollte erst einmal der Bedarf an Sex gesättigt werden. Der Geschlechtsverkehr sollte dann nicht mehr im Vordergrund stehen, sondern normalisiert werden. Für die östliche Welt ist das wohl mit einer tiefgreifenden Reform gleichzusetzen, die eher utopisch erscheint…

Eine wahrscheinlich unerwartete Frage zum Schluss: Warum schaust du dir (keine) Pornos an?

Warum sollte ich mir keine anschauen? Ich mag es, mir Pornos anzuschauen, die keine Thematiken wie Gewalt, Inzest, Kindern, Tieren und Pädophilie enthalten und in deren Szenarios eine natürliche Kommunikation sowie eine romantische Beziehung enthalten sind. Zudem kommt es auch vor, dass ich dabei selbst erregt werde und mir ausschließlich Gedanken über Körper und Grenzen mache. Meiner Meinung nach braucht jede:r Jugendliche:r in ihrer/seiner Pubertätsphase mehr Wissen darüber. Menschen sollten im jungen Alter sowohl über Liebe als auch über Sex belehrt werden. Seit der Pandemie bekomme ich mit, wie Beziehungen zerbrechen (auch meine langjährige Beziehung kam mit den psychischen Folgen der Pandemie zum Ende) oder was für Situationen sich in unserem eingeschränkten Alltag bezüglich der Sexualität voller Entbehrung oder Extremen ereignen. Ich finde sowieso, dass die WHO aufgrund aktueller Begebenheiten jede Frau* mit einem Vibrator versorgen müsste. Lacht mich bitte nicht aus – ich meine es ernst! Ich glaube daran, dass ein Vibrator (bei richtiger Anwendung) die weibliche Energie und Psyche positiv beeinflussen könnte. Aber natürlich gibt es dringendere Bedürfnisse… Meine Antworten bekommen langsam einen wissenschaftlichen sowie rationalen Charakter. Die reine und bedingungslose Liebe ist selbstverständlich auch ein Hauptbedürfnis. Ich erhebe mein Glas auf die Romantikerin in mir!

Text: Berivan Kaya
Lektorat: Dilek Kalın
Fotos: Dilan Bozyel

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