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Sprache & Literatur

Aziz Nesin und die Macht des Wortes

Yüz çiçek yan yana açsın, yüz fikir birbiriyle yaṣasın. — Hundert Blumen sollen nebeneinander blühen, hundert Ideen sollen miteinander leben.

Nesin? Was bist du? Dieser Frage zu begegnen und sie zu ergründen, war die Aufforderung des größten Satirikers der Türkei. Er selbst ging soweit, dass er sich eben diesen Namen gab. Nesin. Aziz Nesin. Ein Denkanstoß sollte der Name, wie auch die Werke Nesins, für die Türken jener Zeit sein. Die Türkei der 1940er und darauffolgenden Jahre wurde wechselseitig dominiert von islamisch-konservativen und nationalistischen Parteien.

Das gemeine Volk verlor mehr und mehr seine Stimme, die Politik war instabil und der nationale und internationale Druck, sich als junge Republik zu beweisen, war groß. Nesin fiel mit seinem Denkansatz und seiner ungewohnt deutlich kritischen Wahrnehmung der türkischen Gesellschaft und Kultur auf. Der Literat verlieh dem Volk durch Satire eine Stimme. Vom anatolischen Bauern über den konservativen Hoca (zu Dt.: Prediger) bis hin zum Spitzenpolitiker – Nesin zog über alles und jeden her. Die Türken liebten und hassten ihn dafür. Und so ist es bis heute.

Leben und Wirken

Auf die autoritären Strukturen der Türkei traf Nesin (geb. 1915) in den 1930er Jahren während seiner Ausbildung zum Offizier. Sie widerstrebten ihm zutiefst. Aufgewühlt durch die Erlebnisse beim Militär, begann er erstmals seine Gedanken in Worte zu fassen und öffentlich Kritik am türkischen Militär und dessen Machtposition in der Türkei zu üben.

„Demokratie ist die Gegenwelt zur Uniform.“

Im Schriftsteller Sabahattin Ali fand Aziz Nesin einen Gleichgesinnten und Verbündeten. Gemeinsam brachten sie die Satire-Zeitung Marko Paṣa (1946 – 1950) heraus, die sich mutig und selbstbewusst für Freiheit und Gleichberechtigung und gegen Autorität, Machtmissbrauch und religiösen Extremismus aussprach. Zahlreiche Anklagen und Prozesse, Zensur und zuletzt das Leben Sabahattin Alis waren der Preis, den die Autoren für die Veröffentlichung ihrer Gedanken bezahlten.

„Ich habe damit angefangen, die Zustände mit meiner Literatur zu kritisieren und nicht mit einer ausdrücklichen politischen Kritik; das ist ein Weg, den viele Literaten gehen. Natürlich ist in der Literatur, in einem Roman, politische Kritik drin, aber sie war zweitrangig, die Hauptsache war für mich die Literatur.” Für die säkulare Arbeiterklasse entwickelte Aziz Nesin sich zum Sprachrohr und für die Machthaber zum Dorn im Auge. Der Humorist Aziz Nesin traf mit Galgenhumor den Nerv jener Zeit.

Aziz Nesin steinigte mit Worten jede Form der Unterdrückung und Autorität. Er sprach aus, was keiner sonst auszusprechen wagte. Seine Kritik war klar, das Ziel war klar, jeder wusste, gegen wen Nesin verbal schoss. Und sie schossen zurück. Die Fundamentalisten und die Nationalisten fühlten sich verschmäht und beleidigt und fürchteten Aziz Nesins Einfluss auf das Volk. Der Literat und bekennende Atheist wurde mehrmals inhaftiert, seine Bücher und Artikel unterlagen der Zensur und zahllose Morddrohungen und Prozesse machten ihm das Leben schwer.

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Unaufhaltsam

Insgesamt saß er fünf Jahre in Untersuchungshaft und sein Offizierstitel wurde ihm wegen Amtsmissbrauchs entzogen. Doch aufhalten ließ er sich nicht. Er veröffentlichte Buch um Buch, Artikel um Artikel, und die Auflagen sprachen für sich. Der Hass, der ihm zuteil wurde, fand seinen Höhepunkt am 02. Juli 1993 im sogenannten Massaker von Sivas (Sivas Katliamı). Künstler*innen, Autor*innen, Musiker*innen und Dichter*innen kamen im Hotel Madimak zusammen, um die Literatur des Dichters Pir Sultan Abdal zu ehren. Eine aufgebrachte Menschenmenge, zumeist religiös motivierte Gegner Aziz Nesins, versammelte sich um das Hotel und zündete es schließlich an.

37 Menschen starben. Nesin, dem dieser Anschlag hauptsächlich galt, überlebte und stand ab diesem Zeitpunkt unter Polizeischutz. Doch aufhalten ließ er sich nicht. Von dem Moment an, als er zum ersten Mal mutig und rebellisch durch Marko Paṣa zu Papier brachte, was ihm widerstrebte, bis fünf Jahrzehnte danach, als ihm seitens der türkischen Regierung 1994 noch die Todesstrafe angedroht wurde, ließ er sich nicht von seiner Arbeit abbringen. Wohlwissend, dass jeder Tag sein letzter sein könnte.

Seine über 100 Werke, darunter Gedichte, Romane, Theaterstücke, Essays und Erzählungen, wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seine Werke zählen zu den meist verkauften der Türkei; er erhielt Zeit seines Lebens renommierte nationale und internationale Auszeichnungen (u.a. die Goldene Tolstoi Medaille 1989, die Carl-von-Ossietzky-Medaille 1993), in Deutschland und England war er Ehrenmitglied im PEN, einem der bekanntesten internationalen Autorenverbände.

Aziz Nesin zu Ehren wurde eine Europa-Grundschule in Berlin-Kreuzberg nach ihm benannt. Die Zeit schrieb 1994 „Aziz Nesin — einer der großen Satiriker der Weltliteratur. Gleichzeitig ein ebenso eigenwilliger wie unerschrockener Mahner, das redende und schreibende Gewissen der türkischen Gesellschaft.“

Das Vermächtnis

Der Menschenrechtler hatte die Vision einer zukünftigen Generation, die frei denkt und frei handelt, ohne religiöse oder politische Zwänge. Selbstbestimmung, Integrität und Chancengleichheit für ein türkisches Volk, in dem alle Menschen gleichberechtigt sind. Nesin widerstrebte jede Form autoritärer Gefüge, so auch im Bildungswesen. Er setzte sich für eine zeitgemäße Bildungsreform an Schulen und Universitäten ein.

1972 gründete der Autor die Nesin-Stiftung, „das Kinderparadies“, dort sollte Schülerinnen und Schülern, die verwaist oder deren Familien mittellos waren, der Weg zu Bildung gesichert werden. Aziz Nesin selbst verfasste die pädagogischen Prinzipien seiner Stiftung, die er in seinem Buch Korkudan Korkmak (zu Dt.: „Die Angst vor der Angst“) veröffentlichte.

„Ich möchte, dass meine Kinder Liebe zu sich selbst empfinden können, dass sie in dieser Liebe und in Selbstachtung heranwachsen.“ Auszug aus Korkudan Korkmak

„Ich will, dass meine Kinder in der Stiftung mit kritischem Blick auf die Welt, die Menschen und die Ereignisse schauen.“ Auszug aus Korkudan Korkmak

Das Herz des Humanisten Aziz Nesin schlug für das einfache Volk. Nicht folgen ohne zu fragen. Wer sich als Türke verloren fühlte, sollte sich besinnen. Nesin ? Was bist du? Sein Traum war eine Türkei, deren Töchter und Söhne sich nicht davor fürchten zu fragen, was sie sind. 1995 starb Aziz Nesin an einem Herzinfarkt. Sein letzter Wunsch, ohne ein islamisches Bestattungsritual an einem unbekannten Platz im Garten seines Kinderparadieses beigesetzt zu werden, wurde ihm erfüllt.

„Über mir sollen die Kinder spielen und Blumen wachsen.“

Text: Banu Pınar

Illustration: Seda Demiriz

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