Sabahattin Ali

Der türkische Gorki

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Nazim Hikmet nannte ihn den einzigen wirklichen Avantgardisten der türkischen Literatur –Zekeriya Sertel, ein bedeutender Name in der Geschichte der türkischen Presse, bezeichnete ihn als Maxim Gorki der Türkei. Sabahattin Ali, ein Geschichtenerzähler und feinfühliger Humanist mit einer bahnbrechenden Beobachtungsgabe, teilte mit vielen Intellektuellen seiner Zeit dasselbe Schicksal: verfolgt, gebrandmarkt, verfemt. Heute gehört er zu den beliebtesten und inspirierendsten Namen in der türkischen Literaturszene. 

Meine Affinität und Faszination für türkische Literatur begann mit einer zufälligen Begegnung zwischen den staubigen Regalen der Landesbibliothek meines damaligen Wohnortes. Der unverblümte Titel sprach mich auf Anhieb an: Der Dämon in uns. Von Sabahattin Ali. Frei von jeglicher Effekthascherei und verschnörkelter Sprachkunst zeigt er in diesem Roman auf, wie wenig sich doch die sinnstiftenden Fragen des menschlichen Daseins seit 1930 verändert haben.

Geburt eines Pioniers in Zeiten des Umbruchs

Der Großteil seines Lebens war geprägt von Leid, Enttäuschungen, Frust, polizeilichen Verfolgungen, starken Repressionen und diversen Gefängnisaufenthalten. Seine Poetik und literarische Sprache zeichnen sich durch eine Greifbarkeit, tiefgründige Sujets und unverschleierte, von jeglicher Affektiertheit entfernten Transparenz aus. Seine raffinierten Analysen und subtilen Beobachtungen der Gesellschaft machen ihn zu einem Virtuosen der Sozialkritik.

Sabahattin Ali zählt zu den Pionieren der modernen türkischen Literatur. Geboren wurde er 1907 in Eğridere bei Gümülcine, das heute zu Griechenland gehört. Seine Kinder- und Jugendjahre wurden geformt von den stürmischen Episoden in der türkischen Geschichte; dem ersten Weltkrieg, dem Zerfall des Osmanischen Reiches, der Gründung der Republik und der darauffolgenden radikalen Durchsetzung der Reformen unter Atatürk. Als Sohn eines weltoffenen und geistreichen Offiziers, der die meiste Zeit seines Lebens an der Front verbrachte, wächst er unter der Obhut einer psychisch kranken Mutter auf.

Reise in die Fremde

Nachdem Ali 1927 sein Lehrerexamen in Istanbul abgelegt hat, geht er nach Yozgat um dort zu unterrichten. Ein Jahr später kommt er im Rahmen eines staatlichen Ausbildungsprogramms der Türkei und Deutschlands für das Studium der deutschen Sprache und Literatur nach Berlin. Anders als geplant, bleibt er jedoch nicht fünf Jahre, sondern reist schon nach 18 Monaten zurück in die Türkei. Der Grund für seine abrupte Abreise ist bis heute umstritten. Einer der Gründe soll eine hitzige Auseinandersetzung mit einem Studenten gewesen sein, der Ali als „türkischen Parasiten“ beleidigt habe. Einer anderen Version nach soll er wegen seiner exaltierten kommunistischen Neigungen nicht weiter erwünscht gewesen sein. Ob die Rückkehr widerwillig oder aus eigenem Antrieb erfolgte, ist bis heute zweifelhaft. Zweifellos ist jedoch das Werk, das er in Folge seines Deutschlandaufenthalts geschaffen hat: Die Madonna im Pelzmantel.

Kunst um der Wahrheit Willen, Kunst um des Guten Willens

Mit diesem Roman entwirft Sabahattin Ali keine Liebesgeschichte im klassischen Sinne. Vielmehr porträtiert er die Fragilität der Existenz, die Flucht vor sich selbst, die menschlichen Schwächen und Stärken. Mit Die Madonna im Pelzmantel liefert er eine fesselnde Charakterstudie und veranschaulicht, dass Literatur für ihn vor allem die Aufgabe der Bewusstseinserweiterung habe. Dem Credo „Art for Art’s sake“ konnte er zu Lebzeiten nichts abgewinnen. Denn Kunst sollte nicht nur schön sein, sondern kathartisch, bereichernd, authentisch, greifbar und kritisch.

Zurück in der Türkei arbeitet er in verschiedenen türkischen Städten und verdient seinen Lebensunterhalt als Deutschlehrer. Doch so richtig kommt er nicht zum Unterrichten, denn wegen angeblicher kommunistischer Propaganda und regierungskritischer Artikel sitzt er mehrfach im Gefängnis. 1938 arbeitet Ali im Übersetzungsbüro des staatlichen Konservatoriums in Ankara, wo er zahlreiche Werke aus dem deutschen ins türkische übersetzt, darunter Lessings Minna von Barnhelm, Kleists Die Verlobung in St.Domingo sowie Hebbels Gyges und sein Ring. Im Dezember 1945 wird er endgültig aus seiner Positionen in Ankara entlassen und zieht nach Istanbul, wo er zusammen mit Aziz Nesin die satirische Zeitung Markopaşa herausgibt. Auch als Herausgeber wird er wegen regierungskritischer Artikel erneut verhaftet und wieder freigelassen. Mehrfach versucht Ali ins Ausland zu reisen, doch wird ihm kein Reisepass ausgestellt.

Jenseits aller Grenzen

1948 entschließt er sich schließlich, auf illegalem Weg über die Grenze Bulgariens nach Frankreich zu flüchten. Am 16. Juni 1948 wird sein Leichnam an der bulgarischen Grenze gefunden. Bis heute sind die Tatmotive seiner Ermordung unklar. Eines der zahlreichen möglichen Szenarien zufolge habe die Geheimpolizei Sabahattin Ali töten lassen. Seine Bücher wurden verboten. Erst rund zwanzig Jahre später begann der Bilgi-Verlag seine sämtlichen Werke herauszugeben.  Nicht ohne Grund wird sein literarisches Schaffen heute hoch geschätzt, als Meisterwerk der türkischen Literatur bezeichnet, ja sogar verehrt. Seine tiefgründigen Gesellschaftsanalysen, sein kritischer Realismus und seine emphatischen und vielschichtigen Romanfiguren machen seine Werke zu einem magischen und ergreifenden Leseerlebnis.

Text: Merve Bayar
Illustrationen: Nagihan Özkar

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