Drei Frauen, drei Kulturen, drei Lebensgeschichten und Deutschland. Unterschiedlicher können die Lebenswege der drei jungen Journalistinnen nicht sein. In Deutschland seien sie letztendlich alle zuhause. Das sagen zumindest Özlem Topçu, Alice Bota und Khuê Pham. Sie sind junge, erfolgreiche Frauen und arbeiten in der Politikredaktion der ZEIT. Dort lernen sie sich kennen, werden Freundinnen und entdecken trotz kultureller Unterschiede Parallelen, die sie in ihrem Buch „Wir neuen Deutschen“ teils auf humorvolle, teils aber auch auf wutentbrannte Art und Weise aufzeigen.
Die drei Frauen haben schon früh erkennen müssen, dass ihre Andersartigkeit sie ein Leben lang begleiten wird. Sie haben schnell den gravierenden Unterschied zwischen „Heranwachsender in Deutschland“ und „deutscher Heranwachsender“ verstanden. Sie schämten sich, weil sie Ausländerinnen waren. Aus diesem Umstand heraus resultierte Wut, und erste Fragen kamen auf wie: „Bin ich auch ein Teil des Ganzen? Was bin ich eigentlich und was will ich sein? Bin ich eine ganze oder eine ‚Ein-bisschen-Deutsche‘“?
Der Fragen-Wirrwarr ist der Anstoß für eine anfangs vergebliche Suche nach einer genauen Selbst-Definition. Die Antworten lassen sich mit der Zeit finden. Ein Grundbaustein war vor allem die Akzeptanz der eigenen Identität und Herkunft sowie das Sich-Einleben in die neue Kultur.
Die drei Journalistinnen erzählen prägende Anekdoten aus ihrem Leben, die für Deutsche ohne einen Migrationshintergrund oft nicht nachvollziehbar sind. Die geteilten Lebensereignisse haben wahrscheinlich alle „neuen Deutschen“ in ähnlicher Weise oder genauso erlebt. Der Leser wird gekonnt dazu angeregt, über die eigene Identität, Herkunft und Verortung nachzudenken.
Alice Bota – Akademikerkind
„Alicja“ wird Vergangenheit, „Alice“ ist Gegenwart. Mit acht Jahren kommt ihre Familie nach Deutschland. Die Kinder lernen Deutsch und vergessen recht schnell Polnisch. Ihre Eltern legen viel Wert darauf, die Sprache der neuen Heimat perfekt zu beherrschen. Sie möchten in Deutschland nicht „die Polen“ sein. Alles Polnische soll wegradiert werden. Ein Versuch, das Wegradierte sichtbar zu machen, beginnt erst während Alices Studienzeit. Sie besucht Seminare zum Thema „Polen“ und lernt erneut die Sprache des Landes. Als ihr endlich der Preis der Integration bewusst wird, quillt Wut auf, weil ihre Familie die polnische, sprich ihre eigene Identität so lange verleugnet hat.
Khuê Pham – Bildungsbürgerkind
Khuê Pham wächst wohlbehütet im Norden Berlins auf. Sie bekommt Klavierunterricht und ist Klassensprecherin. Ihre Familie etabliert sich zur vietnamesischen Vorzeigefamilie. Doch der äußere Schein trügt: Es gibt kein Abendbrot wie bei einer deutschen Familie; Khuê muss auf ihre Geschwister aufpassen und darf nicht so lange wegbleiben wie ihre Freundinnen; Der Zusammenhalt der Familie hat oberste Priorität. Um ihre Andersartigkeit zu kaschieren, muss sie stets gute Noten nach Hause bringen. Eines Abends wird ihr jedoch plötzlich klar: „Egal, wie sehr du dich anstrengst, sie werden dich immer als Ausländerin sehen.“
Özlem Topçu – Arbeiterkind
Als Tochter einer türkischen Arbeiterfamilie verarbeitet Özlem Topçu ihre Kostüm-Blamage an Fasching. In der Türkei gibt es nämlich kein Fasching, weshalb ihre Familie nicht weiß, wie dieses Fest in Deutschland gefeiert wird. Sie entscheidet sich in zwei Welten zu leben. Zu Hause lebt sie in der türkischen Welt, in der Öffentlichkeit bemüht sie sich jedoch, nicht als Türkin aufzufallen und ist stets bestrebt, genauso wie deutsche Kinder zu sein. Mit der Zeit erscheinen ihr ihre Eltern immer fremder und sie kann ihre Freiheiten nur genießen, indem sie sich hinter einem Lügenkonstrukt versteckt.
Deutschland hat „neue Deutsche“
Özlem, Alice und Khuê erzählen, mit welchen Schwierigkeiten sie stets zu kämpfen haben. Sie schrieben dieses Buch als Appell für mehr Toleranz, ja Akzeptanz der „neuen Deutschen“.
Viele „neue Deutsche“ sind immer noch unbewusst auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. Doch die Suche ist kein einfacher, sondern ein mühsamer und steiniger Weg.
Die drei Frauen erzählen unterschiedliche Erlebnisse, die weitere Fragen bezüglich ihrer Identitätsfindung hervorbringen. Die Antworten lassen sich jedoch schneller finden, als sie denken.
„Manchmal wissen wir nicht, wer wir sind. Manchmal wissen andere nicht, wer wir sind. Aber eines ist uns nun bewusst: Wir sind deutscher, als wir denken. Was kann daran schon schlimm sein?“
Illustration: Rikk Nerlig
Wir neuen Deutschen
Özlem Topçu, Alice Bota, Khuê Pham
Hamburg 2012
Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-00673-0