Aslı Özarslan ist 32 Jahre alt und hat mit den beiden Dokumentarfilmen INSEL 36 (2014) und Dil Leyla (2017) bereits zwei Werke geschaffen, die ein breites Publikum und Feuilletons begeistert haben.
Für INSEL 36 begleitete Aslı eine junge Frau, Napuli, die als einzige Frau zwischen 250 Männern im Protestcamp der Geflüchteten am Oranienplatz gelebt hat. Napuli agierte in den Medien als Repräsentantin des Camps, initiierte gemeinsam mit den anderen Geflohenen eine bundesweite Demonstration und stellte gleichzeitig eine Anlaufstelle für Sorgen und Ängste ihrer Mitstreiter*innen dar. Im Camp widersetzten sich Geflüchtete der zentralen Lagerunterbringung, Residenzpflicht und Abschiebungen. Nach knapp anderthalb Jahren wurde es geräumt.
aus INSEL 36
In Dil Leyla geht es um Leyla Îmret, die jüngste Bürgermeisterin in der Türkei. Eine Deutsch-Kurdin, die sich, obwohl in Bremen aufgewachsen, mit Ende zwanzig entschloss, in ihre Geburtsstadt Cizre zu gehen, die an der syrisch-irakischen Grenze in der Türkei liegt. Dort wurde sie zur Bürgermeisterin gewählt und begann, sich für den Wiederaufbau der durch türkische Angriffe zerstörten Stadt einzusetzen. Im Laufe des Dokumentarfilms bezeugen die Zuschauer*innen die von der Regierung verhängte Ausgangssperre, Angriffe auf Cizre und die Probleme, mit denen Leyla Îmret und ihre Familie durch ihr politisches Engagement konfrontiert werden. Diesen Sommer wurde Dil Leyla auf dem International Film Festival Nancy ausgezeichnet.
Leyla Imret in Dil Leyla
Mit Aslı haben wir uns in ihrer Wohnung in Berlin auf einen Kaffee getroffen und über Dokumentarfilme, Emotionalität und Objektivität, Freundschaft und Durchhaltevermögen unterhalten.
Du hast Theater und Medien in Bayreuth, Soziologie und Philosophie in Paris und schlussendlich Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert. Wie hast du dich dazu entschieden, dich auf Dokumentarfilme zu konzentrieren?
Ich wusste nicht gleich, in welche Richtung ich gehen möchte. Nachdem ich eine Zeit lang Verschiedenes ausprobiert und Praktika beim Fernsehen gemacht hatte, stellte ich fest, dass ich längere Geschichten erzählen und in Mikrokosmen eintauchen wollte. Gleichzeitig wollte ich sowohl meinem eigenen Blick auf eine Sache als auch den jeweiligen Protagonist*innen Raum geben. Nach meinem ersten kurzen Dokumentarfilm sah ich, dass ich insbesondere bei diesem Medium die Zeit und auch die Möglichkeit habe das zu verwirklichen. Auch weil man dort mit allen filmischen Mitteln frei arbeiten kann. Speziell durch die Bildgestaltung und den späteren Schnitt kann ich entscheiden, wie die Geschichte erzählt werden kann und welche Atmosphäre ich wiedergebe. Das hat mich fasziniert! Aber natürlich auch, dass ich Welten, die mir fremd sind, kennenlernen und mit spannenden Menschen über einen längeren Zeitraum unterwegs sein kann.
Filmemachen mit Herzblut
Was macht für dich eine gute Doku aus?
Oh, das ist schwierig.
Es gibt ganz tolle Momente, die man so nur im Dokumentarfilm erlebt, unglaublich menschliche, manchmal auch widersprüchliche Momente, die man sich so kaum ausdenken kann.
Das können Situationen sein, Mimiken, eine Beziehung oder etwas, das in diesem Augenblick entsteht. Wenn ich diese Momente in einem Dokumentarfilm sehe, dann merke ich, dass das Team viel Zeit aufgebracht, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, lange zu beobachten, Vertrauen zu Protagonist*innen zu gewinnen. Das macht Qualität aus, die dann im Film zu spüren ist. Toll ist natürlich auch, wenn es ein Aha-Erlebnis gibt, wenn ich also durch den Film die Möglichkeit bekomme, eine neue Sichtweise zu verstehen. Es gibt allerdings auch experimentelle Herangehensweisen, bei denen ich die filmkünstlerischen Aspekte besonders interessant finde. Ich glaube, einen Dokumentarfilm macht es wirklich gut, wenn man die Handschrift des Filmemachers oder der Filmemacherin erkennt und spürt, dass viel Herzblut und Geduld dahintersteckt.
Sowohl Dil Leyla als auch INSEL 36 behandeln ja sehr politische Themen. Welchen Effekt erhoffst du dir davon?
Ich finde es schön, wenn Filme etwas in Bewegung setzen, das ist aber nicht immer so. Wenn das passiert, gibt es mir Hoffnung, aber in erster Linie entstehen meine Filme aus meiner eigenen Neugierde heraus. Da stelle ich mir die Fragen: Was interessiert mich an der Thematik, was kann ich versuchen zu verstehen und dann auch weitergeben? Mich interessiert vor allem die Person, die ich porträtiere, ihr Umfeld, aber auch Hürden, mit denen sie konfrontiert ist. Was ich in beiden Filme zeigen wollte, war die Stärke, das Durchhaltevermögen, die sowohl in Leyla als auch Napuli stecken, und die Entwicklung, die beide im Laufe der Zeit durchmachen. Anhand der Geschichten beider Frauen hatte ich die Gelegenheit, auf Missstände aufmerksam zu machen. Ich hoffe also, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer in eine Welt eintauchen, die sie vorher nicht kannten, und dass wir ihnen damit Denkanstöße geben können.
Eine Beziehung, die sich nicht in Worte fassen lässt
aus Dil Leyla
Sowohl Dil Leyla als auch INSEL 36 zeigen sehr intime Momente. Hast du manchmal Bedenken, dass du zu nah dran bist, wenn du solche Szenen filmst?
Zu nah dran zu sein ist beim Dokumentarfilm eigentlich unmöglich.
Wenn du es geschafft hast, dass die Person, um die es geht, dich vergisst oder genug Vertrauen zu dir hat, dass es okay für sie ist, emotional zu sein, hast du den Jackpot geknackt.
Vor allem bei Dil Leyla ist interessant zu sehen, wie Leyla uns im Laufe des Filmes immer näher an sie heranlässt. Damit hat man natürlich auch eine große Verantwortung – ich will ja auf keinen Fall meine Hauptfigur bloßstellen, die sich mir so geöffnet hat. Nähe zu einer Person schafft man filmisch jedoch unter anderem, indem man die Widersprüchlichkeit zeigt, die in jedem Menschen steckt.
Hast du noch Kontakt zu Leyla und Napuli? Würdest du die Beziehung, die du zu den beiden hast, als freundschaftlich beschreiben?
Freundschaft basiert ja auf innigem gegenseitigem Austausch, und obwohl ich am Set immer natürlich auch von mir erzähle, ist das etwas anderes. Während der Dreharbeiten lachen wir zusammen und weinen zusammen, sprechen viel miteinander und sind eng verbunden. Am Oranienplatz zum Beispiel kam es an einem Tag wegen der Filmarbeiten zu einer Auseinandersetzung. Da hat Napuli mich ermutigt und gesagt:
„Wir müssen hier jeden Tag kämpfen, also müsst ihr das auch!“
Das heißt man lernt unter anderem auch viel voneinander. Lernt, sich zu unterstützen. Da entsteht für einen Zeitraum eine enge Beziehung, die ich nicht in Worte fassen kann. Deswegen ist es mir wichtig, auch nach der Fertigstellung des Films den Kontakt aufrecht zu erhalten. Denn mich interessiert sehr wie es weitergeht. Ich weiß aber nicht, ob ich das als eine Freundschaft bezeichnen kann. Es ist etwas anderes.
aus INSEL 36
Bilder, die ein Gefühl vermitteln
Das klingt spannend! Bei beiden Filmen konntest du nicht vorhersehen, wie sich die Situation entwickeln wird. Wie bereitest du dich also auf den Dreh vor? Wie sieht ein Regiekonzept bei dir aus?
Da es mir in meinen Filmen um ein Gefühl geht, das von einem Menschen ausgeht, suche ich nach Bildern, die dieses Gefühl vermitteln können. Ich verbringe ja vor den Dreharbeiten immer viel Zeit ohne Kamera mit den Personen und weiß dann bei Drehstart, welche Bilder das sein könnten. Dann passieren aber unerwartete Dinge, du begegnest neuen Leuten, es entstehen Situationen, die dich überwältigen oder die schrecklich sind, so wie es bei Dil Leyla der Fall war, als wir abbrechen mussten. Dann musst du dein Konzept wieder verwerfen. So bringen einzelne Momente die Geschichte voran. Indem wir beim “Direct Cinema“ rein beobachtend bleiben und keine Off-Kommentare oder Interviews haben, müssen wir situativ entscheiden, wie wir was darstellen. Bisher hat es aber immer geklappt, dass das Gefühl, um das es von Anfang an ging, auch im Film zu spüren war.
Man sympathisiert sehr mit den Protagonistinnen deiner Filme. Wie empfindest du die Gratwanderung zwischen der Darstellung von Fakten und der Vermittlung von Emotionen? Fällt es dir schwer, objektiv zu bleiben, oder ist das gar nicht dein Ziel?
Mein Ziel ist es, den Zuschauer*innen Raum für eigene Gedanken zu geben. Natürlich ist jeder Film auf die eine oder andere Weise manipulativ, schon allein durch den Schnitt. Da entscheide ich, was gezeigt wird und was nicht. Und auch das Material. Was konnten wir überhaupt einfangen? Und noch davor entscheidet die Protagonistin, was sie preisgeben möchte. Natürlich habe ich eine Meinung, die scheint durch und das muss sie auch. Denn ohne meinen Blick als Filmemacherin wäre der Film nicht konsequent. Mir ist es wichtig, eine Balance zwischen Nähe und Distanz zu schaffen, dem Zuschauer Raum zu geben, mitzudenken. Wenn ich glaube das geschafft zu haben, mache ich mir keine Sorgen. Ich möchte einen Menschen, der mich interessiert darstellen, eine Atmosphäre wiedergeben und nichts propagieren.
Was werden wir als Nächstes von dir auf der Leinwand zu sehen bekommen?
Ich arbeite derzeit an einer Buchadaption, für die ich auch schon die Rechte habe. Das wird aber noch eine Weile dauern, und mehr kann ich gerade noch nicht verraten.
Text: Lisa Genzken
Fotos: Aus den Filmen Dil Leyla und INSEL 36 und mit freundlicher Genehmigung von Aslı Özarslan