adressarrow-left Kopiearrow-leftarrow-rightcrossdatedown-arrow-bigfacebook_daumenfacebookgallery-arrow-bigheader-logo-whitehome-buttoninfoinstagramlinkedinlocationlupemailmenuoverviewpfeilpinnwand-buttonpricesine-wavetimetwitterurluser-darwinyoutube
Gesellschaft & Geschichten

Wie viele Opfer noch?!

Die tragische Geschichte von Semra Ertan

Triggerwarnung: In dem folgenden Artikel geht es um eine sehr heftige Form des Protestierens: Die Selbstverbrennung.

Innerer Dialog mit dir – „Solange der Feind nicht besiegt“

Du,
Kind oder Jugendlicher,
Mädchen oder Junge.
Lasst euch nicht unterdrücken.
Lasst nicht zu, dass sie euch die Traumbilder von den Wimpern,
Den Namen von der Seele,
Die Stimme aus den Ohren stehlen.
Für Dich
Soll jedes Herz voller Liebe schlagen.
Deine Worte sollen verletzen
Die, die dich nicht respektieren.
Kämpft,
Eure Waffen sollen eure Wörter sein,
Tötet nicht,
Verletzt nur.

Solange ihr nicht erschöpft seid,
Solange ihr den Mut nicht verliert,
Seid ihr stark.
Solange der Feind nicht besiegt
Und der Hass nicht vergeht,
Werdet ihr Widerstand leisten.

(Ratschlag, Semra Ertan, 1981)

Wenn ich deine Gedichte lese

Ich mache meine Augen auf. Kurze Zeit später mache ich sie zu. Plötzlich befinde ich mich in einem Deutschland, das – obwohl unbekannt – mir sehr vertraut ist. In diesem Jahrzehnt bin ich geboren. Vier Jahre nach deinem Tod. Es sind die 80er.
Die Stadt, in der ich mich aufhalte, nennt sich das „Tor zur Welt“: Hamburg.
Dein Geschriebenes wirkt wie wiederkehrende Zeilen, die mir leise und doch entschieden zuflüstern. Sie lösen in mir eine unbeherrschte Wut, die ich mein ganzes Leben versucht habe, zu kontrollieren. Lange habe ich es nicht verstanden, woher diese Aufgebrachtheit herrührt. Doch du bringst es einfach auf den Punkt.
Zeitlos fühlt sich dieser Groll an, weil ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wann er angefangen hat. Fühlt sich so an, als wäre er sogar in meinen Schöpfungsplan mit einkalkuliert. Und all das kommt hoch, wenn ich deine Gedichte lese.
Dein Kampf gegen Menschen, die Dummheiten anrichten und anderen Menschen ein Gut und Schlecht zusprechen, ist beeindruckend. Der Zug deiner Würdigung fährt allerdings ohne schallenden Applaus und breite Wertschätzung in der Wüste umher. Dabei ist dein Protest unvergleichlich und dennoch in Vergessenheit geraten. Wieso?
Du flüsterst mir stetig zu und gibst mir das Gefühl eines Bewusstseins für Geschichte. Unsere Geschichte. Auf Papier manifestierst du sie in deiner eigenen Gefühlssprache. Sie besitzt kein Anfang und kein Ende.

Es ist schmerzlich.

Es kommt wieder. Das Brennen. Steigt zögernd aber zielstrebig hoch. Der Schmerz lässt mich stöhnen.
Wir alle haben es erlebt. Unsere Mütter und Väter haben es erlebt. Es geht bis zu unseren Großeltern zurück. Aus dieser Energie heraus, hast du mit dem Stift geschrien. Ich sehe ein Käfig voll von deinen ungehörten Emotionen.
Lasst nicht zu, dass sie euch die Traumbilder von den Wimpern,
Den Namen von der Seele,
Die Stimme aus den Ohren stehlen.
Ich muss dir gestehen, dass meine Traumbilder weit entfernt von mir waren. Mein Name wurde mir auch gestohlen. Doch die Stimme blieb. In mir drin.
Mitunter ist das nur passiert, weil du und viele andere mir vorenthalten worden seid. So begriff ich, dass meine Blindheit gewünscht war. Doch die Wahrheit verhält sich wie Wasser. Sie kann aus jedem noch so kleinen Loch durchrinnen.
Solange ihr nicht erschöpft seid,
Solange ihr den Mut nicht verliert.
Seid ihr stark.

Der Weg zu dir – „Wozu lebe ich?“

Wozu lebe ich?
Ich frage mich jeden Tag, für was und wen ich lebe?
Ich habe keinen Geliebten und keine Zukunft,
Keine Arbeit, kein Morgen.
Für was lebe ich?
In der Leere.
(Semra Ertan)

Meine Augen sind weiterhin verschlossen.

In der Ferne sehe ich dich, auf mich zukommen. Klar ist deine Gestalt trotzdem nicht. Deine Stimme ist kein Flüstern mehr.
Ich frage mich jeden Tag, für was und wen lebe ich?
Im Gegenzug frage ich mich, ob du dich einsam gefühlt hast. Was hat dich dazu getrieben, dich einsam zu fühlen? Warst du wirklich allein? Eine Antwort, die wir nicht mehr bekommen werden.
Ersichtlich wird, dass du langsam müde bist. Der Kampf gegen das Erstarken der uneinsichtigen und naiven Schattenwelt namens Rassismus kann sehr viel Kraft kosten. Das kenne ich. Sehr gut.
Deine Zeichensetzung in diesem Widerstand übersteigt alle mir bekannten Möglichkeiten. Es fällt mir sehr schwer. Wie lange hast du für diese Entscheidung gebraucht?
Scheinbar warst du sehr entschlossen. Hast du doch ein Tag vorher Radio und Fernsehen mitgeteilt, was dein Plan ist. Es sind auch keine leeren Worte gewesen.
Der NPD hast du die Stirn geboten. Sie ziehen zu deiner Zeit mit einer extremistischen Fraktion schwarz maskiert durch die Gegend und verkünden ihre Machenschaften. Die Fraktion nennt sich HLA. Hamburger Liste für Ausländerstopp.
Zu deiner Einsamkeit kommt das Gefühl der Verachtung hinzu. Obendrein ist dein Mann nach einer kurzen Ehe verstorben, du hast deine Ausbildung abgebrochen und auch keinen Job mehr gefunden.
Ich habe keinen Geliebten und keine Zukunft,
Keine Arbeit, kein Morgen.
Die Gesellschaft hat dich stark beschäftigt und dein Innenleben zermürbt. An diesem Gedicht merke ich, wie du mit deinem Leben abgeschlossen hast. Beendest du dieses Gedicht sogar mit verlassenen Worten und schickst deine Lesenden in eine mulmige Stimmung.
In der Leere.
Ich merke, wie Tränen über meine Wangen laufen. Liegt es an diesem Gedicht oder liegt es daran, dass ich im nächsten Abschnitt mich von dir verabschieden muss.

Am Ende mit dir – „Wenn ich eines Tages verloren gehe“

Wenn ich eines Tages verloren gehe,
Sucht mich ja nicht!
Falls ihr mich doch suchen solltet, sage ich euch:
Ich bin in Deutschland.
(Semra Ertan)

Sucht mich ja nicht!

Es ist der 24. Mai 1982. Mitten in der Nacht. So ungefähr vier Uhr morgens. Uns bleibt nicht mehr lang.
Du hast es dir zur Aufgabe gemacht, in einen Hungerstreik zu treten. Ich sehe dich unter einem Baum sitzen. Diesmal sprichst du lauter und es ist alles andere als ein geruhsamer Ton. Durchdringlich und intensiv. Obwohl du keine Kraft mehr hast. Das sehe ich dir an.
Plötzlich blickst du auf mich und bist sehr zittrig.
Wenn ich eines Tages verloren gehe,
Sucht mich ja nicht!
Ich nicke dir zu und warte auf das Unvermeidliche. Wie kann ich dich loslassen, obwohl ich dich gerade erst gefunden habe. Aber ich weiß, dass du es jetzt bald tun wirst.
Du willst, dass wir Menschen miteinander besser auskommen. Friedlich und freundschaftlich sollen wir zusammen unsere Leben gestalten.
Ich kriege langsam keine Luft mehr, weil ich weiß, was gleich folgt.
Es wird langsam fünf Uhr morgens.
Du nimmst das Fünf-Liter-Kanister-Benzin neben dir und schüttest es über dich.
Wir sind an der Kreuzung Simon-von-Utrecht-Straße Ecke Detlef-Bremer-Straße. Im Hamburger Stadtteil St. Pauli.
Du willst gehört werden. Du willst gesehen werden. Denn du willst, dass sich was verändert.

Es wird laut.

Flammen übergreifen deinen Körper. Ich höre nix mehr. Es ist 5:15 Uhr.
Polizist*innen eilen herbei und versuchen dich zu löschen. Schließlich sitzt du gar nicht so weit entfernt zu einer Polizeiwache.
Sie bemerken mich gar nicht. Ich bin ja gar nicht hier. Es ist alles nur eine gedankliche Auseinandersetzung. Mit dir. Diese Art des Schreibens ist die authentischste Form für mich, mit deiner Geschichte umzugehen.
Nahezu 52% deiner Haut ist verbrannt, heißt es im Krankenhaus. Deine Mutter will dich sehen, die Ärzte berichten ihr vorher, dass du kaum zu erkennen bist und jeden Moment sterben könntest.
Sie fragt dich nach dem Grund deiner Tat. Deine Antwort ist einfach: Wegen der Unterdrückung der Türk*innen in Deutschland.
Ein paar Tage später stirbst du an deinen Verbrennungen. Mit nur 25 Jahren opferst du dein Leben für den Kampf gegen Rassismus.
Dein Todestag ist dein Geburtstag. Es ist der 26. Mai 1982.

Ich mache meine Augen auf.

Dein Feuer, was du mit dem Stift angezündet hast, hat das Brennen in mir zum Tosen gebracht. Dein Feuer steckt in uns allen.
Liebe Semra, ich verspreche dir, dass ich kämpfen werde. Du und viele andere sollen nicht vergessen werden. Auf keinen Fall!

 

+++++++++++++

Ihr Gedichtband könnt ihr bei edition assemblage unter diesem Link bestellen.

Die Familie von Semra Ertan führt ihren Kampf fort und unter diesem Link könnt ihr sie unterstützen.

Ein Text von Murat Taşcı
Gedichte: Semra Ertan
Bilder: Zühal Bilir-Meier, Cana Bilir-Meier (Herausgeberinnen)
und Can-Peter Meier.

Nächster Artikel

Gesellschaft & Geschichten

Das vergessene Kapitel des Berliner Häuserkampfs

Migrantischer Mieter*innenwiderstand

    Lust auf Lecker Newsletter?