Nâzım Hikmet nannte ihn einen „Scharlatan“, Roland Barthes einen „Hippie-Dandy“: Der französische Schriftsteller, bekannt als Pierre Loti, rief mit seinen exotischen und verklärenden Reiseberichten gleichzeitig Spott und Bewunderung hervor. Zur Türkei hegte er eine lebenslange Liebe, die so weit ging, dass er sich in seiner Istanbuler Zeit sogar einen türkischen Namen gab und sich als „Türke“ verkleidete. Doch das war nur eines der vielen Gesichter der schillernden Figur Pierre Lotis.
Ein junger Marineoffizier geht auf Reisen
Sein richtiger Name war eigentlich Julien Viaud. Er wurde 1850 als Sohn einer Seefahrerfamilie in der westfranzösischen Stadt Rochefort geboren. Als Kind träumte er sich in die Ferne: Sein älterer Bruder Gustave, ein Marinearzt, erzählte ihm oft von seinen Reisen und exotischen Ländern. Doch er starb jung, während einer Seefahrt auf dem Indischen Ozean. Inspiriert und im Andenken seines Bruders entschied sich Julien ebenfalls, die Marineschule zu besuchen, und wurde Offizier. Mit 18 begann er die Welt zu bereisen und schipperte unter anderem nach Nord- und Südamerika, den Pazifikinseln und Afrika.
Die Königin Pomaré IV. von Tahiti rief ihn nach einer tropischen Blume „Loti“. Mit diesem Namen sollte er sich aber erst einige Jahre später selbst schmücken und vor allem als Schriftsteller bekannt machen. Julien begann seine Eindrücke und Erlebnisse aufzuschreiben, veröffentlichte erste kleine Artikel und Zeichnungen. Auf seiner Reise in den Senegal erlebte er diverse Liebesabenteuer mit einheimischen Frauen und war fortan von der Exotik am anderen Ende der Welt fasziniert.
Er war schon 26, auf seiner Reise 1876 nach Selânik, dem heutigen Thessaloniki, was damals Teil des Osmanischen Reiches war. Dort begann seine große Liebesgeschichte, die er in seinem ersten Roman Aziyadé verewigte. Gleichzeitig war diese Reise auch der Beginn seiner lebenslangen Verbundenheit zur Türkei.
Aziyadé und das Leben in der Türkei
„Die Augen waren so grün und erinnerten an die Färbung des Meeres, wie es einst die orientalischen Dichter sangen. Diese junge Frau war Aziyadé.“
So beschreibt Pierre Loti die erste Begegnung mit der jungen Haremsdame, die im echten Leben Hatice hieß. Es war der Beginn einer großen Liebe und ein Abenteuer in einer Kultur, die er mit vollem Elan auskostete. Er wurde nach Istanbul versetzt und Aziyadé folgte ihm einige Zeit später, zusammen wohnten sie im Istanbuler Viertel Eyüp. Loti lebte einen orientalischen Traum und versuchte einen Türken zu mimen, trug Fes, nannte sich Arif-Effendi und begann Türkisch zu lernen. Seine Maskerade nahm ihm niemand wirklich ab, aber Loti fühlte sich wohl in seiner Rolle. Istanbul war für ihn ein magischer Ort im für ihn schönsten Land der Welt:
„Über den Zypressen glitzert der Streifen des Goldenen Horns, und noch darüber, viel höher, die Silhouetten einer orientalischen Stadt, es ist Stamboul. Die Minarette und hohen Kuppeln der Moscheen schneiden in den bestirnten Himmel, wo eine schmale Mondsichel hängt.“
Der Roman setzt sich aus Briefen, Reisenotizen und Tagebucheinträgen zusammen und bildet die erlebte Geschichte des jungen Offiziers ab.
Man erlebt ein Istanbul à la Loti: exotisch, romantisch, orientalisch und verklärt, aber detailliert beschrieben. Seine Darstellungen beziehen sich immer auf seine eigene Person und stülpen seine subjektiven Empfindungen über die Stadt. Auch seine Aziyadé ist eher ein Schatten seiner selbst, eine exotische Schönheit, von deren Innenleben man kaum etwas erfährt. Doch die Geschichte endet natürlich tragisch: Als Lotis Dienst vorbei war, verließ er Istanbul und Aziyadé nach knapp acht Monaten mit dem Versprechen, seine Geliebte nach Frankreich zu holen. Seine Liebste starb jedoch, angeblich an gebrochenem Herzen.
Vom Ehrenbürger zum Scharlatan
Neben Aziyadé widmete Pierre Loti noch ein paar weitere Werke der Türkei, darunter Fantôme d’Orient (1892, dt. Phantom des Orients), Les Désenchantées (1906 dt. Die Entzauberten) und diverse Artikel, wie Constantinople (1892). Nach seiner tragischen Liebesgeschichte hatte Istanbul fortan einen melancholischen und nostalgischen Schleier in seiner Wahrnehmung, blieb aber von einem Zauber umgeben. Er kehrte bis zu seinem Tod 1923 immer wieder für kürzere Aufenthalte in die Türkei zurück, nannte das Land zärtlich seine Heimat und sein Vaterland und ergriff auch in politischen Fragen immer wieder Partei für das Osmanische Reich. Er wurde Ehrenbürger der Stadt Istanbul, speiste beim Sultan und bekam 1921 einen würdigenden Brief von Atatürk als Dank für die tiefe Freundschaft zur Türkei.
Durch seinen verklärenden Stil und seine manchmal vereinfachte Ansichten bleibt Loti umstritten. Auch wenn seine Bücher damals Bestseller waren und in der Türkei geschätzt wurden, wundern sich viele über diese merkwürdige Figur, die sich zudem einen Namen in der französischen Literaturszene machte. 1891 wurde er in den Gelehrtenkreis der ehrwürdigen Académie française, den Hütern der französischen Sprache, aufgenommen.
Der türkische Dichter Nâzım Hikmet spottet 1925 in seinem Gedicht Şarlatan Piyer Loti (dt. Scharlatan Pierre Loti) über den turkophilen Schriftsteller:
„Das ist der Orient, wie ihn der französische Dichter sah!
Das ist der Orient der Bücher,
von denen pro Minute eine Million gedruckt werden!
Doch es gab weder gestern,
noch gibt es heute so einen Orient
und es wird ihn auch morgen nicht geben!“
Die Spuren eines umstrittenen Schriftstellers
In den französischen intellektuellen Kreisen wird Pierre Loti bis heute kritisch gesehen. Roland Barthes nannte ihn einen „Hippie-Dandy“. Dazu trugen nicht nur seine verklärenden und sentimentalen Texte bei, sondern auch sein Hang sich einer anderen Kultur mit Maskerade und Verkleidungen zu nähern. Er projizierte sich eher selbst in Andere hinein, als sich wirklich auf das Fremde einzulassen. Seine narzistische Neigung lässt sich auch auf zahlreichen Fotografien wiederfinden, auf denen er sich verkleidet als Araber, Türke oder in Marineuniform in Pose wirft. Es scheint, Loti wäre ein Wegbereiter des heutigen Selbstdarstellungswahns.
Doch es wird noch kurioser: Von seinen zahlreichen Reisen schleppte er so manche Erinnerungsstücke mit nach Frankreich und richtete sich damit eine eigene Fantasiewelt in seinem Elternhaus ein. So befinden dort unter anderem ein Rittersaal, eine Moschee, ein türkischer Salon und ein chinesisches Zimmer, die noch heute besichtigt werden können. Selbst den Grabstein von Aziyadé, Hatice, nahm er aus Istanbul mit. Auf dem Istanbuler Friedhof steht heute eine Kopie.
Auch in Istanbul hat er Spuren hinterlassen: Im Stadtteil Eyüp, wo er damals lebte, kann man mit einer Luftseilbahn den Pierre-Loti-Hügel erreichen und mit Blick auf dem Goldenen Horn im Pierre-Loti-Café Tee trinken. Neben dem Café, das als Touristenmagnet mit der schönen Aussicht lockt, ist eine französische Schule nach ihm benannt, genau wie eine Straße, die „Piyer Loti Caddesi“.
Bei allem Spott und der Kritik stellt sich die Frage, warum man Lotis Bücher heute noch lesen sollte. Die Antwort lässt sich vielleicht mit einer Aussage des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss beantworten. Er beschreibt Lotis Bücher als „wertvolles ethnographisches Zeugnis“. Dabei spricht er von Loti selbst, der durch seine Bücher vor allem den subjektiven Blick von außen dokumentiert. So können wir ein Bild davon bekommen, wie westliche Länder damals die Türkei und die Menschen wahrgenommen haben.