Die Berlin-Istanbul-Trilogie Sonne auf halbem Weg umfasst drei ineinander übergehende, autofiktionale Romane Emine Sevgi Özdamars: Der erste Teil mit dem Titel Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus spielt in der Türkei der 50er und 60er Jahre und begleitet die Protagonistin bei ihrem Heranwachsen vom Mutterbauch bis zur Volljährigkeit.
Humorvoll und poetisch beschreibt Özdamar eine besondere Coming-of-Age-Geschichte, die mit der Entscheidung der Hauptfigur endet, als Arbeiterin nach Deutschland zu gehen. Der zweite Teil, Die Brücke vom Goldenen Horn, spielt in West-Berlin, wo die Protagonistin in der Industrie arbeitet, mit anderen türkischen Frauen im „Wonaym“ lebt und von einer Karriere am Theater träumt. Zurück in der Türkei, wo das Militär die Macht übernommen hat und zunehmend repressivere Maßnahmen gegenüber Kurd*innen und Linken ergreift, nimmt sie Schauspielunterricht und tourt mit einer Theatergruppe durchs Land. Mitte der 70er Jahre, im dritten Teil also, der Seltsame Sterne starren zu Erde heißt, geht die Romanfigur wieder ins geteilte Berlin und arbeitet als Regieassistentin an der Volksbühne in Ost-Berlin.
Emine Sevgi Özdamars Sprache ist es, die viele begeistert: Anekdotisch und voller Leben erzählt sie mit wörtlichen Übersetzungen des Türkischen ins Deutsche, mit tagebuchähnlichen Elementen, mit märchenhaften, melodischen Sätzen und großen, oft ironisch-grotesken Bildern eine Geschichte vom Gehen und Bleiben, vom Überschreiten von Grenzen.
GAZINO BERLIN führt im Heimathafen die ersten beiden Teile von Sonne auf halbem Weg als szenisch-musikalische Zeitreise zwischen Bosporus und Spree auf. Die Premiere des ersten Teils findet am 26.09. statt.
Wir durften GAZINO BERLIN bei der Probe für den ersten Teil zusehen. Im Anschluss haben wir uns mit der Regisseurin Gökşen Güntel und der Schauspielerin Hürdem Riethmüller über ihr Stück unterhalten.
Was mögt ihr an Emine Sevgi Özdamars Sonne auf halbem Weg besonders?
Gökşen Güntel: Als ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe, war ich sofort hin und weg, es hat mich sehr gefesselt, inspiriert. Ich war zu Tränen gerührt, aufgewühlt. Das war ein Zufall, wie es halt manchmal im Leben so ist, dass ich darauf stoßen durfte. Die Sprache, all das, was in diesem Roman verarbeitet wird. Ich habe ganz viele Parallelen zu mir und meinem Leben entdeckt. Ich bin „Gastarbeiterkind“ – ich mag dieses Wort eigentlich gar nicht, das hört sich so komisch an. Dieses „Gast“ und „Arbeit“, das tut immer ein bisschen weh.
Özdamar hat einen schönen Satz dazu gesagt, sie meint, sie mag das Wort sehr gerne, weil sie immer zwei Personen vor sich sieht, einen Gast, der rumsitzt, …
Gökşen Güntel: … und einen Arbeiter, der eben – arbeitet. Ganz genau. In mir löst dieser Begriff aber Unwohlsein aus. Beim Lesen wurde ich sehr nostalgisch, ich habe natürlich auch an meine Großmutter gedacht, an meine Familie und daran, wie meine Mutter damals nach Deutschland gekommen ist. Sevgis Sprache hat mich, glaube ich, auch so berührt, weil ich auf einmal mit diesen beiden Seiten, den beiden Hälften, die ich bin, als Ganze angesprochen wurde.
Sonne auf halbem Weg ist sehr umfangreich. Was ist das, was ihr eigentlich zeigen, erzählen möchtet?
Gökşen Güntel: Wir hatten eigentlich vor, die Trilogie in vier Teilen zu zeigen. Wegen der Corona-Pandemie mussten wir viele Abstriche machen. Im ersten Teil der Trilogie geht es um die Zeit vor dem Anwerbeabkommen. Was mich daran interessiert, ist, einen Einblick in das Leben der Hauptfigur des Romans zu gewähren, das Leben in der Türkei, die Wirtschaft, die Politik. Weil wir davon, glaube ich, nicht so viel wissen. Und auf der Bühne hat man die Möglichkeit, die Essenz daraus zu ziehen, das atmosphärisch wiederzugeben.
Das Streben nach Sicherheit, nach Möglichkeiten und einem guten Leben, das haben wir alle. Überall auf der Welt wollen oder müssen Menschen woanders hingehen, um ein gutes Leben zu führen, wenn sie da, wo sie sind, keines haben. Neue Wege einzuschlagen, das steckt in uns drin. Es gibt die unterschiedlichsten Gründe, warum Menschen damals hierhergekommen sind, es gab natürlich das Anwerbeabkommen, und man wusste, man kommt zum Arbeiten hierher. Das bietet Möglichkeiten, aber auch Verluste. Das ist alles ambivalent.
Klar, es gibt die Hoffnung und den Wunsch nach Bewegung nach vorne, aber es gibt auch das Hinterlassen, das Verlassen, das Hinter-sich-lassen. Ich finde den Satz sehr treffend: „Keine*r ist ohne Grund hierhergekommen.“ Es gab oft keine einfachen Beweggründe. Alle hatten da ihre eigene Geschichte, ihre eigene Not. Das finde ich sehr wichtig zu erzählen.
Hürdem Riethmüller: Darüber hinaus hat Emine Sevgi Özdamar eine ganz besondere Migrationsgeschichte, und beschreibt diese auch in der Trilogie. Aber sie kennt natürlich auch die „normale“. Ich glaube, sie hat von Anfang an einen künstlerischen Weg im Kopf gehabt. Die Integrationspolitik, diese ganzen behördlichen Schritte waren eigentlich nur Mittel zum Zweck, um ins Ausland, nach Europa zu kommen. Sevgi verbindet beides, das ist eben das Interessante: Es gibt nicht so viele Menschen, die diesen Doppelweg gegangen sind. Und sie ist eben nicht nur Theaterkünstlerin, sondern Allrounderin, sie hat ja auch gezeichnet, ihre Zeichnungen wurden ausgestellt im Foyer des Berliner Ensembles in Ost-Berlin. Was mir persönlich gut am Stück gefällt: Es ist eine gewisse Loslösung vom „heiligen Werk“, ohne dass man den Text verfälscht hätte.
Gökşen Güntel: Wir haben viel mit Humor gearbeitet, das ist mir sehr wichtig – die Formen sind ganz bewusst gewählt, offen und episch.
Welche Relevanz hat die Trilogie heute?
Gökşen Güntel: Ich finde die Trilogie nach wie vor sehr aktuell. Ganz viele Menschen können sich darin wiederfinden: die Geschichte könnte in jeder Zeit und in jedem Land spielen. Das, was relevant ist, ist das Gehen von neuen Wegen. Wirtschaftliche Not, Familie, Politik, also alles, was einen zu Handlungen drängt. Das gibt es immer.
Seht ihr eine Verbindung zwischen der Gazino-Kultur und Sonne auf halbem Weg?
Gökşen Güntel: Im Roman gibt es diesen Moment, in dem Zeki Müren auftritt, ein Künstler, der für das Gazino steht. Die Gazino-Kultur haben wir eingewoben, indem wir auf verschiedenen Ebenen mit Musik arbeiten: Die Musik in den verschiedenen Teilen ist die aus dem jeweiligen Jahrzehnt, das schafft die Atmosphäre. Auf der anderen Seite singen eben auch die Schauspieler*innen. Die Geschichte, die Zeit und die Musik unterstützen sich gegenseitig. Das Gazino tritt auf als Ort, an dem man seine Sorgen draußen lassen möchte, wo man zusammen lacht, weint, redet, singt und trinkt.
Interview: Lisa Genzken und Matze Kasper
Fotografie: Kiki Piperidou