Die ausverkauften Säle der Komischen Oper Berlin sind gefüllt mit Hinz und Kunz, nicht etwa mit Ali ile Veli (das türkische Pendant zu Hinz und Kunz, sprich: jedermann). Denn es sieht nicht so aus, als säßen viele Türken im Publikum. Während die internationalen Gäste ihre Untertitel auf Deutsch, Englisch und Französisch lesen, steht Türkisch nicht zur Auswahl. Für Mustafa Akça ist das ein Problem, das er nicht ignorieren will. Der Musikpädagoge etabliert ein Projekt, das Deutsch-Türken dazu einlädt, sich auf das zeitgenössische deutsche Musiktheater einzulassen. Akça denkt dabei an Workshops, an Vorträge und einen kurzen Spielplan, der verschiedene Operetten darstellt.
„Selam Opera“ ist die kleine Schwester der Oper
Akça muss ein Team finden. Das Haus ist zwar voll, doch er muss sein Ensemble erst davon überzeugen mitzumachen. Außerdem braucht der Theaterpädagoge ein Auto. Sein Projekt spielt nicht in der Komischen Oper, sondern draussen auf der Straße, im Kiez, in Sprachschulen und Begegnungsstätten. Akça findet einen Dramaturgen, eine handvoll Musiker und zwei Stimmen. Das kleine Ensemble, die wenigen Instrumente und die reduzierte Kulisse machen sein Projekt zu der weniger opulenten Schwester der Komischen Oper. „Für mein Projekt wollte ich einen Namen, der klingt wie ein freundliches Hallo oder eine Einladung“, erzählt Akça. „Deswegen heißt es ‚Selam Opera‘.“
An einem Donnerstagnachmittag im März steht eine Aufführung in der Hartnack Sprachschule an. Akça führt seine Truppe zu einem Transporter, den alle nur den „Operndolmuş“ nennen und übergibt an Arnulf Ballhorn. Dieser erklärt uns das einfache Prinzip: „Wir möchten den Deutsch-Türken ein Wir-Gefühl vermitteln, das ihnen die Scheu vor der Oper nimmt.“ Der Kontrabassist ist von Beginn an Musiker bei „Selam Opera“, vier Jahre schon. Er steigt mit seinem Orchesterkollegen Juri Tarasenok und dem Tenor Johannes Dunz in den Wagen. „Es geht uns darum, eine Richtung vorzugeben“, fügt Ballhorn mit einem Blick in den Rückspiegel hinzu. „Wir wollen zeigen, was Oper ist, nämlich nicht notwendigerweise ein Ort, an dem dicke Menschen auf der Bühne stehen und sich anschreien“.
Im Türkischen ist Dolmuş ein klappriges Gefährt, ein traditionelles Sammeltaxi. Der Operndolmuş hingegen ist ein Mercedes und hat kaum Gemeinsamkeiten mit dem Original. Einzig der Fahrstil über holperige Straßen erinnert an türkische Taxifahrer. Der vierte Fahrgast ist Ballhorns imposanter Kontrabass, er füllt die hintere Sitzbank.
Eine Aufführung mit Wohnzimmercharakter
Als Schauplatz für „Selam Opera“ dient heute ein kleiner Raum in der Hartnack Sprachschule gefüllt mit dreißig Stühlen für dreißig Schüler; sie sind mit Leder bezogen. Das Licht, das vom Kornleuchter an der Decke ausgeht, legt sich wie ein Weichzeichner über den Raum. An den Wänden hängen goldgerahmte, historische Bilder vom Berliner Nollendorfplatz. Eine fünfzehnminütige Fahrt und eine Generalprobe später befinden sich auf dieser improvisierten Bühne die drei stellvertretenden Musiker des Orchesters: Arnulf Ballhorn am Kontrabass, Juri Tarasenok am osteuropäischen Akkordeon, dem sogenannten Bajan und Daniela Braun an der Geige. Kein unsichtbares 60-Personen-Orchester wie es für eine Oper üblich ist; die Aufführung hat Wohnzimmercharakter. Der direkte Austausch zwischen dem Publkum und den Orchestermusikern und Sängern geschieht über Mimik und Gestik. Über das Publikum legt sich keine Dunkelheit, wie sie üblich ist, sobald der erste Ton in einem Opernsaal erklingt. Selbst das Publikum verhält sich untypisch: Die Schüler zücken ihre Smartphones, um die Aufführung aufzunehmen. Tatsächlich fühlt man sich inmitten von nur dreißig Zuhörern wie ein integrierter Bestandteil des Stücks.
„Frauen erleben in der Oper oft das Ende nicht“
Mezzosopranistin Zoe Kissa schreitet mit Dunz in das Setting. Sie beginnen mit einer Szene aus der scherzhaften Oper „Der Barbier von Sevilla“ von Rossini. Trotz der komischen Natur des Dialogs sind die Gesichter im Raum skeptisch. Der Eindruck täuscht, denn der erste Applaus fällt großzügig aus. Es folgen Auszüge von Operetten wie „Die Hochzeit des Figaro“ (Mozart), „Im Weißen Rösl“ (Benatzky) und „Die Blume Hawaii“ (Abraham), die in Berlin spielt.
Pavel B. Jiracek hat diesen Spielplan erdacht und liefert als Dramaturg in seiner Moderation das nötige Hintergrundwissen. Jiracek erklärt, dass auch Musik eine Sprache sei. „Allerdings eine, die alle verstehen“, fügt er hinzu. Bei der Quizfrage, auf welcher fremden Sprache Zoe die „Carmen“ (Bizet) im gleichnamigen Stück mimt, wird richtig geraten – auf Türkisch. Jiracek erntet Stirnrunzeln und Gelächter bei der Anekdote, dass Frauen in der Oper oft das Ende nicht erleben, sich dafür aber in ihren Auftritten emanzipieren. Überhaupt seien Gefühle in Opern ganz groß geschrieben. Oper funktioniert, weil „emotionale Geschichten erzählt werden, die sich um Liebe drehen“, verrät der Dramaturg. Man glaubt es, so wie sich die Mädchen und Jungen im Raum heimlich Blicke zu werfen, wenn Dunz und Kissa bei dem Lied „My little boy“ in ihren Rollen miteinander schäkern und flirten.
„Die Reaktion vom Publikum ist unser Barometer.“
Das Publikum und das Ensemble mischen sich, treten durch die Flügeltür und nehmen sich belegte Brötchen vom Buffet im Nebenzimmer. Für die abschließende Fragerunde sind die Schüler zu scheu. Dunz kann es ihnen nicht verübeln, wo sich doch selten wie hier der Schuldirektor unter seine Zöglinge mischt, jedes Wort seiner Schüler bewerten könnte. „Die Reaktion ist unser Barometer“, sagt er. „Wir wissen nie, wie viele Leute wir wirklich überzeugen, bis sie es uns sagen“. Die Schüler füllen einander Getränke in Pappbecher und werfen einen Blick auf die Broschüren zu „Selam Opera“, die ebenso schnell eingesteckt werden, wie sie auf dem langen Tisch auslegt wurden. Kissa ist zufrieden. „Das Publikum ist warm. Wir sind gut angekommen.“
Marat, der die Aufführung mit konzentrierter Stirnfalte in den hinteren Reihen verfolgt hat, zeigt sich als Fan klassischer Musik. „Ich liebe Die Hochzeit des Figaro. Es war spannend, die Szene in diesem engen Raum begrenzt zu sehen, bemessen auf so kurze Zeit“, sagt er. Seine Mitschülerin Cetita Combé ist hin und weg: „Sie haben meine Erwartungen übertroffen. Alle. Der Tenor war unglaublich, die Akustik und die Pointen saßen. Auch die Carmen auf Türkisch war so besonders. Ich kannte sie bisher nur im Original auf Französisch.“ Hartnack-Direktor Lauterbach spendiert hundert Freikarten für einen Besuch in der Komischen Oper. Ein Raunen geht durch die Reihen, belebt den Raum. Wenn die Schüler wollten, könnten sie alle Opern mit türkischen Texten verfolgen. Jetzt gibt es sie.
Was „Selam Opera“ bewirkt hat
Das deutsch-türkische Netzwerk hat sich vergrößert und verselbstständigt. In den verschlungenen Stockwerken des Opernkomplexes in der Behrensstraße sind Väter mit ihren Kindern. Sie kommen aus der Probestunde für den deutsch-türkischen Kinderchor, einer weiteren Komponente von „Selam Opera“. Respektvoll nicken sie Mustafa Akça zu, denn dank seiner Initiative steht die Vielfalt des Hauses nicht mehr allein auf dem Papier der Broschüren.
Credits
Text: Genna-Luisa Thiele
Fotograf: Michael Kuchinke-Hofer