Mit nur 29 Jahren nahm sich die Lyrikerin Nilgün Marmara am 13. Oktober 1987 in Istanbul das Leben, indem sie sich vom fünften Stockwerk in die Tiefe fallen ließ. Ihr tragischer Tod scheint kein Einzelfall zu sein zu sein: Neben ihr sahen auch die Lyrikerinnen Anne Sexton, May Ayim und Sylvia Plath den Freitod als Ausweg.
Tatsächlich existiert sogar ein Begriff dafür, der 2001 von dem amerikanischen Psychologen James Kaufman geprägt und eingeführt wurde: der Sylvia-Plath Effekt, der belegen soll, dass besonders Lyrikerinnen suizidal veranlagt seien. Nilgün Marmaras fragile Dichterexistenz kann mit Sicherheit diesem Phänomen zugeschrieben werden. Von fundamentaler Tragweite war ihre Bewunderung und Verehrung für Sylvia Plath, in deren Gedichten und Persönlichkeit ihre zerbrechliche Seele Vertrautheit fand.
Ein Leben zwischen Euphorie und Todessehnsucht
Nilgün Marmara kommt am 13. Februar 1958 in Istanbul auf die Welt und lernt, dank der Bibliothek ihrer Eltern, die fantastische Welt der Bücher bereits in frühen Jahren kennen. Ihre ersten Gedichte schreibt sie während ihrer Studienzeit an der renommierten Bosporus-Universität in Istanbul, wo sie englische Sprache und Literatur studiert. Ihre Gedichte bleiben für geraume Zeit unentdeckt. Ihre Abschlussarbeit markiert einen Wendepunkt in ihrem Leben.
Ergriffen von der expressiven Dichtung und dramatischen Lebensgeschichte schreibt Marmara über Sylvia Plaths Gedichte im Hinblick auf ihren Selbstmord. In Plath erkennt sie eine Seelenverwandte, eine tiefe Verbundenheit und eine großartige Inspirationsquelle.
Wie Plath leidet auch Marmara unter Depressionen und versucht, gesellschaftliche Zwänge und rigide Konventionen zu durchbrechen, indem sie ihrem Frust und ihrer Desillusion in ihren eigenen Gedichten Ausdruck verleiht. In ihrer Arbeit betont sie Plaths persönliche Beziehung zur Lyrik: „Für Plath bedeutete die Lyrik ein Zufluchtsort, der ihr Isolation und Kraft gegen die Gefahren der Außenwelt gewährte.“
Diese Isolation, die Flucht vor der Wahrheit, könne zweifellos als Sichtbarkeit interpretiert werden. „Plath hat sich gegen die Gesellschaft gewehrt, die Frauen stets als zweitrangig behandelt hat, und wählte den Selbstmord als Erwiderung auf die verwerfliche Erwartung der Gesellschaft, die Frau als konformes Wesen zu bestimmen“. Ihr Fazit lautet: Der Selbstmord als Reaktion ist unabwendbar.
Zwei Kontinente, zwei Kulturen, zwei Sprachen, und doch waren sich Plath und Marmara so nah; zwei Seelen, die sich gegen die Welt behauptet, sie hinterfragt und herausgefordert haben.
Es sind vor allem existenzielle Aspekte wie Depressionen, Selbstmord, Gender, Identität und Verlassenheit, die Marmara in ihren Gedichten thematisiert. Marmara entdeckt und formt darin ihre eigene einzigartige, lyrische Sprachkraft. In einem ihrer bekanntesten und berührendsten Gedichte Kuş koysunlar yoluna (dt. Ein Vogel soll auf deinen Weg gelegt werden) offenbart sich ihre innere Verlorenheit und Melancholie:
Ich laufe vor etwas weg
Ich kann mich nicht finden
Wiederkehrend kann ich mich nicht finden
Ich kann keinen Ort für mich finden
Einen Ort für mich
Bir şeyden kaçıyorum bir şeyden, kendimi bulamıyorum dönüp gelip
kendime yerleşemiyorum,
kendimi bir yer edinemiyorum, kendime bir yer
„Ich habe kein Land, kein Geschlecht, keine Rasse“
Marmara ist eine rastlose Seele, eine unbestimmbare Natur, die sich jeglicher Klassifizierung entsagt. So heißt es in ihrem vielzitierten Gedicht ‘Canım Sıkıntı Sınırı’: ‘Ich habe kein Land, kein Geschlecht, keine Rasse’.
Ihr Eigenwille, ihre Individualität und ihr Intellekt machen es unmöglich, Marmara in Schubladen zu stecken, doch kann sie sich dem gesellschaftlichen Druck nicht weiter widersetzen. 1982 heiratet sie den Wirtschaftsingenieur Kağan Önal und verbringt mit ihm 16 Monate in Libyen. Dort verspürt sie Einsamkeit und Abgeschiedenheit, was ihre Melancholie und Depression noch verstärkt. Zuflucht und Trost findet sie im Schreiben und Dichten.
Impulsiv wie Zelda
Zweifellos hat auch ihr Kontakt zu den führenden Intellektuellen und Dichter*innen wie Ece Ayhan, Ilhan Berk, Cemal Süreya, Turgut Uyar, Edip Cansever, Tomris Uyar, Lale Müldür und Cezmi Ersöz erheblichen Einfluss auf ihr Schaffen ausgeübt. Zusammen mit anderen jungen, innovativen Dichter*innen wie Orhan Alkaya und Küçük İskender findet sie als Mitglied der Dichtergruppe Yeni Marjinaller (dt. Die neuen Marginalen) Anerkennung und Würdigung.
Von Cemal Süreya bekommt sie den Spitznamen Zelda, benannt nach der leidenschaftlichen und impulsiven Flapper-Ikone und Autorin Zelda Fitzgerald, der Frau der amerikanischen Schriftstellerlegende F. Scott Fitzgerald. Nicht nur Zeldas aufgeweckte und neugierige Natur ähnelt Marmaras Wesen, sondern auch ihr tragisches Ende.
Flucht aus dem Wartezimmer
Als bei ihr manische Depression diagnostiziert wird, rät man ihr, umgehend mit dem Schreiben und Lesen aufzuhören, ihre Medikamente einzunehmen und sich von dem Bohème-Leben zu distanzieren. Ihrer widerspenstigen Natur folgend schlägt sie jeden noch so gut gemeinten Rat aus und widmet sich zunehmend ihrer Schreibkunst und dem Alkohol. Tief vereinsamt und isoliert entscheidet sie sich gegen ein Leben in der seelischen Dunkelheit. Am 13. Oktober 1987 stürzt sie sich aus dem Fenster und verlässt, wie Cemal Süreya nach Marmaras Tod festhält, diese Welt, die sie für eine Art Wartezimmer für ein anderes Leben hielt.
Was bleibt sind ihre ergreifenden und intimen Gedichte, die die Menschenseele erfassen, aufwühlen, berühren, inspirieren. Wie Plath hat sie nicht davor zurückgeschreckt, ihr Innerstes auszugraben und zu offenbaren. Und wie Plath hat auch sie den Tod dem Leben vorgezogen und eine Leere hinterlassen. Eine Leere, die ihr kostbares Vermächtnis für die literarische Welt wieder wettmacht.
Text: Merve Bayar
Illustration: Nagihan Özkar