Sie sagen, deine Meere bilden Brücken, die Kontinente vereinen.
Sie sagen, alles getrennte würdest du verbinden.
Also stürze ich mich in deine Fluten, Istanbul,
damit du auch mich, zerrissenes, entzweites Stück mit mir vereinst.
Narren behaupten, Gottes Auge sei platziert auf den Pyramiden Gizehs,aber erblicke ich deine majestätischen Minarette, höre ich die Gebetsrufe der Muezzine, so verstehe ich, dass du Gottes Okular bist.
Durch dich blickt er auf uns hinab.
Deine Zähne, Istanbul, beißen mich jedes mal lieblich, sobald du in Gelächter ausbrichst.
Der Asphalt deiner Straßen ist das Pflaster für meine Wunden.
Wie habe ich mich deinem Lachen hingegeben.
Wie habe ich mich verliebt in deine eifrigen Maronenverkäufer, die wie wimpernschlaglose Engel über deinen Straßen wachen.
Wie habe ich mich verloren in die peitschenden Wellen des Bosporus, die dem Auslöschen des Höllenfeuers mächtig sind?
Für wahr, ich bin dir in Liebe verfallen. Egal wohin ich gehe, ich sehe dich.
Und so beobachte ich gedankenversunken an einem Morgen im Juni einsam, gemeinsam mit dir dein Meer.
Sie schaukeln mildherzig schwere Schiffe in die Richtung des Horizonts.
In der Luft funkeln Farben .
Sie umzingeln mich wie ein schützender Zauber.
Verlieren an Schimmer, Schwärze bricht auf.
ich beginne zu lauschen: hungriges Knurren ertönt stürmisch aus dem Untergrund,
Nebel steigt auf und verschleiert mir die Weitsicht.
Wie ein schwerer Mantel legt er seine Arme um die wippen Schiffe.
Selbst ihre Silhouette wird mir unkenntlich, unsichtbar.
Ich höre dein Meer laut aufatmen, es tobt, wirbelt, schäumt.
Es verschlingt alles um sich herum. Die Schiffe, kleine Boote, die Wolken und die friedvoll fliegenden Möwen.
Erbarmungslos saugt es alles in sich, was sich nicht halten kann.
Dein Meer knurrt laut auf vor Sättigung.
Und als wäre nie etwas gewesen, geht die Sonne erneut auf, dein Meer schaukelt leise und friedvoll vor sich hin.
Bloße Furcht in mir.
ich verstehe, dass dieses Schauspiel eine Opfergabe an dich ist.
Du bist, weil du uns auffrisst.
Auch mich, die, die verfallen ist in dich, würdest du aufopfern.
Ich würde zu dem verdauten Smog Istanbuls werden und du,
du würdest in deiner hinterlistigen Schönheit weiter weilen.
Die heiligen Gebetsrufe der Muezzine werden von den fluchend – wütenden Worten der Taxifahrer übertönt.
Das Gebrüll der habgierigen Bazarhändler übertönt das flüsternde Bitten der Bettler.
Die Trauer der Frauen wird verdeckt von ihren Kopftüchern.
Und so sehe ich dich, ungeschminkt und nackt.
Dein warmes Spatzennest wird mir zum einflechtendem Löwenkäfig.
Das liebliche Beißen deiner Zähne wird mir zu einem vor Hunger triefendem Biss.
Und ich, die Gazelle, werde niedergelegt von deiner Gefräßigkeit.
Nun bin ich nicht mehr entzweit,
sondern in tausend geteilt.
Allmählich verstehe ich:
Deine Brücken verbinden keine Kontinente,
sie trennen sie.
Gedicht: Gonca Temurçin
Fotos: Pexels