adressarrow-left Kopiearrow-leftarrow-rightcrossdatedown-arrow-bigfacebook_daumenfacebookgallery-arrow-bigheader-logo-whitehome-buttoninfoinstagramlinkedinlocationlupemailmenuoverviewpfeilpinnwand-buttonpricesine-wavetimetwitterurluser-darwinyoutube
Sprache & Literatur

„Deutschland ist ein großer, roter Apfel – aber innen ist er faul“

Ahmet Haşims Frankfurter Reisebericht

Das Licht der Welt erblickte Ahmet Haşim im damals osmanischen Bagdad, vermutlich im Jahre 1884. Dort verbrachte er als türkischstämmiger Sohn eines Diplomaten und einer Hausfrau adeligen Ursprungs einen wichtigen Teil seines Lebens, der seinen Charakter maßgeblich formte.

Er war gerade einmal 12 Jahre alt, als seine Mutter durch ihren frühen Tod aus seinem Leben schied. Dieser erschütternde und nie vollständig verarbeitete Verlust sollte ihn und seine Dichtkunst für den Rest seines Lebens prägen und ihn zu einem der bedeutendsten türkischen Dichter der Moderne formen – und das, obwohl er, trotz seiner Herkunft, die türkische Sprache erst später in Istanbul nach dem Tod seiner Mutter erlernte.

Morgenröte der Zukunft

Der Anfang fiel schwer. Von seinem eher kühl veranlagtem Vater in das Istanbuler Galatasaray Sultanisi, dem heutigen Galatasaray-Gymnasium im historischen Stadtteil Beyoğlu, geschickt, distanzierte er sich rasch von seinem sozialen Umfeld. Dies erfolgte aus einer Art Selbstschutz. Bedingt durch das Nichtsprechen der türkischen Sprache und sein Aussehen, welches er sein Leben lang an sich bemängelte, durchlebte er allerlei Schikanen und wurde von seinen Mitschülern ausgeschlossen.

Deutschland in Form eines Apfels. Oder andersrum.

Mit der Vertiefung seiner Türkischkenntnisse wuchs auch das Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen und, als wegweisendes Element seiner Biographie, die Zuneigung zur Poesie, die er womöglich als eine Art Zufluchtsort aus dem Erlebten sah; eine Möglichkeit, einen Schritt zurückzutreten, weg von Hast und Hektik, zu distanzieren, zu reflektieren und zu verarbeiten.

Sprache ermöglicht Freiheit

Die Dichtervereinigung, die sich der Melancholie, den Elementen des französischen Symbolismus und dem Credo „Kunst ist persönlich und ehrwürdig“ verschrieb und deren Kunst von einer sprachlichen Melodik und abendlichen Farbeindrücken durchdrungen war, zerfiel jedoch recht schnell. Die Balkankriege und der aufkommende Nationalismus schufen größere Anreize für Haşims Kollegen.

Kunst ist persönlich und ehrenwürdig.

Haşims Dichtervereinigung

Neben dem Türkischen eignete sich Ahmet Haşim während seiner schulischen Ausbildung auch das Französische und Persische an. Die Ästhetik dieser Sprachen wurde Teil des Grundgerüsts der literarischen Strömung, die er gemeinsam mit Freunden erschuf – der Fecr-i Ati, zu Deutsch: Morgenröte der Zukunft.

Haşim – Der kranke Mann am Bosporus

Nach verschiedenen Tätigkeiten, war Haşim unter anderem als Beamter beim staatlichen Tabakmonopol und Französischlehrer tätig, sowie mehreren erfolglosen Beziehungen (oftmals selbstverschuldet), wurde sein Leben zunehmend von seiner Herz- und Nierenerkrankung überschattet.

Einmal, als er eine potenzielle Braut neben ihrer Mutter sah, rannte er aus dem Raum und kreischte „Ich sah, wie sie mit 40 aussehen wird!“

Um sich behandeln zu lassen, reiste er 1924 nach Paris und im goldenen Herbst des Jahres 1932 nach Frankfurt am Main. Die Eindrücke seiner Reise mit dem Orient Express und seines zweimonatigen Aufenthalts dokumentierte er in seinem Frankfurter Reisebericht, dem „Frankfurt Seyahatnamesi“.Im Orient Express nach Frankfurt

Schon zu Beginn lässt Ahmet Haşim in nahezu entschuldigendem Tenor verlauten, dass sein Werk kein klassisches Reisetagbuch sei. Vielmehr seien die in 20 Kapitel aufgeteilten Ansammlungen der Eindrücke, die er zunächst als einzelne Artikel in diversen Zeitungen veröffentlichte, eine Reise in und durch das Selbst. Erst nach der Rückkehr an den Bosporus brachte er die Artikel zu einem schmalen Bändchen zusammen, auf das deutschsprachige Leser*innen jedoch rund 75 Jahre warten musste, bis es schließlich übersetzt wurde.

Im Orient Express nach Frankfurt

Am zweiten Tag nach seiner Ankunft geht er durch die Frankfurter Straßen und bemerkt, dass alle europäischen Städte sich ähneln. Zudem meint er, dass jeder Europäer eine Art „Uniform der Zivilisation“ trägt.

„Was für eine Gesinnung man auch haben mag: ein Europäer muss, um diese Bezeichnung zu verdienen, eine ordentliche Jacke, eine Hose und eine Kopfbedeckung tragen.“

(Haşim, 2008:34)

Große Aufmerksamkeit schenkt Haşim der Architektur Frankfurts mit seinen Häusern, breiten Straßen und Geschäften. Jedoch verändert sich der anfangs positive Eindruck Haşims am Abend, als er das unmoralische Nachtleben Frankfurts erlebt. Haşim beschreibt Deutschland als ein nahezu bewusstseinsgespalten anmutendes Gebilde. Äußerlich „ein großer, roter Apfel“, welcher jedoch innerliche Anzeichen der Fäulnis und Zersetzung erkennen lasse.

Eitle Bettler & andere Gegensätze

Er observiert die aufeinanderprallenden Gegensätze zwischen Arm und Reich sowie Modernität und Apathie. Deutlich wird der Kontrast zwischen gepriesenen, aber gehässigen Hochschulprofessoren und Firmenbesitzern, die nur wenig für die Belange des gemeinen Volkes übrig haben und eben jener Gruppe zugehörigen Bettlern illustriert, die sich trotzdem nicht zu schade sind, in Anzug samt Krawatte um Almosen zu bitten.

Deutschland
Eine Zäsur der Kunstgeschichte in Deutschland.

Haşim starb am 4. Juni 1933, kurz nach der vorausgesagten Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und der Veröffentlichung seines kleinen Bandes an den Folgen seiner Erkrankung. Einige Zeit später brennen auf den von Haşim hochgelobten deutschen Straßen und Plätzen Bücher. Schon 1821 hatte der Dichter Heinrich Heine formuliert:

“Das war ein Vorspiel nur! Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen!” Dieses Zitat Heines umrandet heute die in den Boden eingelassene Gedenktafel auf dem Frankfurter Römerberg, auf dem am 10. Mai 1933 die Werke von Brecht, Heine, Kästner, Freud und vieler anderer verbrannt wurden. Drei Tage zuvor erschien Haşims Frankfurter Reisebericht in der Türkei.

Ein Beitrag von Aykut Kaya und Talha Kiraz, Illustration: Daisy Lotta


Nächster Artikel

Gesellschaft & Geschichten

Kuchen für alle! – Alltagsrassismus

Die Kölner renk.Redaktion tauscht sich aus

    Lust auf Lecker Newsletter?