Im sechsten Teil unserer Serie stellen wir euch drei Frauen* vor, die furchtlos die Grenzen des Sagbaren in der Gesellschaft erweitern. Sie stehen ein für Selbstbestimmung, freie Meinungsäußerung, Gerechtigkeit und Wissenschaft und fordern uns heraus, zu diskutieren, statt zu schweigen.
Dr. Bahriye Üçok – eine Theologin, die den Islam neu denken wollte
Bahriye Üçok studierte Türkisch-Islamischen Geschichte des Mittelalters an der Universität Ankara und gleichzeitig Oper am staatlichen Konservatorium und setzte mit beiden Abschlüssen in der Tasche 1953 ihre Arbeit an der theologischen Fakultät der Universität Ankara fort. Dort promovierte sie mit einer Dissertation zu Herrscherinnen in Islamischen Ländern und erhielt 1965 als erste Frau eine Professur an der Fakultät. Üçok sprach unter anderem Arabisch und Farsi, forschte intensiv zur Rolle der Frau im Islam und plädierte für eine offenere, zeitgenössische Auslegung des Glaubens. Durch die Vielzahl von Drohungen, die sie von islamischen Vereinigungen bekam, sah sie sich gezwungen, ihre Forschungen aufzugeben.
In Politik und Öffentlichkeit für eine freiere Interpretation des Islams
1971 begann sie als Senatorin ihre politische Karriere. Einige Jahre später trat sie der kemalistischen sozialdemokratischen Partei CHP bei. Nach dem Militärputsch 1980 half sie, die sogenannte Volkspartei (Halkçı Parti) gründen. Für diese Partei wurde sie bei den Wahlen 1984 als Abgeordnete aus Ordu in die Große Nationalversammlung (TBMM) gewählt. Außerdem wirkte sie bei der Gründung des Vereins zur Förderung der Ideen Atatürks mit (Atatürkçü Düşünce Derneği).
Auch wenn sie ihre Forschungen an der Universität beendet hatte, veröffentlichte die Wissenschaftlerin Beiträge in der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet. 1988 nahm sie an einer aufsehenerregenden Fernsehdebatte des Regierungssenders TRT teil, wo sie die Kopftuch- und Fast-Pflicht bestritt. Ihr Ziel, den Islam von Falschauslegungen zu lösen, gab sie nicht auf.
„Ich denke nicht, dass das Gesetz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Wege steht. […] Frauen müssen lediglich eine Bildungs- und Ausbildungsmobilisierung anstreben, um sich die ihnen anerkannten Rechte ins Bewusstsein zu rufen und ihre Rechte, abseits von der Unterdrückung durch Männer, frei nutzen zu können.“ – Dr. Bahriye Üçok
Ein plötzlicher Tod
Üçok starb durch ein Attentat am 6. Oktober 1990. Ein Buchpaket, das sie per Kurier bekam, entpuppte sich bei der Öffnung als Briefbombe, die sie in den Tod riss. Der Fall wirft bis heute Spekulationen auf, da keine Verantwortlichen identifiziert wurden. Üçok hinterließ eine Vielzahl wissenschaftlicher und journalistischer Publikationen wie Abkehr vom Islam und der erste falsche Prophet und Mit einem kleinen Abstand auf den Spuren Atatürks. Als Theologin, Journalistin und Politikerin leistete sie essenzielle Diskussionsbeiträge um die Auslegung des Islams in der Türkei und die Rolle der Frauen darin.
Dr. Betül Kaçar – Auf geheimnisvollen Spuren der Evolution
Dass Betül Kaçar einmal mit der NASA über die Evolution und Leben auf anderen Planeten forschen würde, hatte vermutlich niemand in ihrer Familie erwartet. Die Astrobiologin wuchs in Istanbul auf und war die erste Person in ihrer Familie, die die Sekundarstufe abschloss. Später studierte sie an der Marmara Universität in Istanbul Chemie. Bei einer internationalen Konferenz zu Parkinson und Alzheimer, bei der sie ehrenamtlich aushalf, hörte sie einen Vortrag über molekulare Veränderungen von Enzymen im Alter.
Inspiriert von diesem Vortrag bewarb sie sich als Forschungsstipendiatin beim Howard Hughes Medical Institute in den USA, welches sie bekam. Während dieser Zeit besuchte sie auch ein Forschungslabor an der Emory University in Atlanta, Georgia, wohin sie als Masterstudentin zurückkehrte. In dieser Erfahrung sieht Kaçar ein Schlüsselereignis ihres Lebens: Mit gerade mal zwanzig Jahren emigrierte sie in die USA.
„Wenn ich zurückschaue, hätte ich Angst haben müssen, doch das war nicht der Fall. Die Chance des Erfolgs wog schwerer als der Gedanke an Versagen, welcher – wenn ich ehrlich bin – mir nicht einmal in den Sinn kam. […] Ich bin eine Frau der Schwarzmeerregion, wir sind bekannt dafür ‘gözü kara‘ (dt. furchtlos) zu sein. Ich habe keine Angst vor Versagen und bin ganz sicher gözü kara!” – Dr. Betül Kaçar
An der Emory University machte Kaçar ihren Doktorabschluss in biomolekularer Chemie. Hier begann sie auch ihre Forschung über die Evolution und Hintergründe, die das heutige Leben auf der Erde bestimmen. Dass diese Themen in der Türkei, aber auch im Süden der USA heiß debattiert werden, verstärkte ihr Interesse nur noch. SVon der NASA erhielt sie ein Postdoc-Forschungsstipendium sowie eine Fellowship-Stelle. Mit diesen Geldern konnte sie verschiedene Labore in den USA und Europa besuchen und ihr Forschungskonzept aufbauen. Ihre Zusammenarbeit mit der NASA besteht seitdem fort.
Wenn 700 Millionen Jahre alte Gene zum Leben erwachen
Kaçar erweckt 700 Millionen Jahre alte Gene in den Zellen von heute wieder zum Leben und beobachtet, wie deren mikrobielle Genome und die „neuen“ Gene sich aneinander anpassen. Sie beobachtet in synthetischen Evolutionen, sogenannten Labor-Evolutionen, wie sich die Genome nach 2000 künstlich erzeugten Generationen verhalten.
„Nur weil ein Planet heute kein Leben beherbergt, bedeutet es nicht, dass er das nie getan hat. […]. Die Vergangenheit der Erde zeigt uns alternative Szenarios. Reise drei Milliarden Jahre zurück und es grüßt dich ein heißer, saurer Planet mit riesigen Lava-Vulkanen und vielen Meteoriten-Einschlägen. Nicht sehr angenehm! Aber wir denken, dass Leben, fern von unserem heutigen, damals schon existierte und die Moleküle dieser Lebensformen waren ziemlich nah an den fundamentalen Molekülen des heutigen Lebens.“ – Dr. Betül Kaçar
An der Harvard University leitete die Astrobiologin zwischen 2014 und 2017 ein unabhängiges Forschungsprojekt, in dem sie ihr Wissen an neuere Generationen von Wissenschaftler*innen vermittelte. Mit ihrem Labor zog sie an die University of Arizona, wo sie aktuell als Assistenzprofessorin arbeitet. Hier forscht sie in den Feldern der Astronomie und Molekularbiologie, auf der Suche nach den Anfängen des Lebens auf der Erde und Hinweisen auf weiteres Leben im Universum. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, welche Antworten sie noch finden wird.
Pınar Selek – Eine, die keine Angst vor Tabuthemen hat
Bekannt wurde Pınar Selek durch ihre soziologischen Forschungen zu Straßenkindern, Sexarbeiter*innen, sexuellen Minderheiten und Kurd*innen in der Türkei. Sie ist ein vertrautes Gesicht der feministischen Bewegung und war die Herausgeberin des feministischen Magazins Amargi, welches seit 2016 eingestellt ist. Heute ist sie nicht nur eine der bedeutendsten Soziologinnen der Türkei, sondern auch ein Symbol für politischen Widerstand.
Seit über 20 Jahren im Kampf um die Freiheit
Als sich 1998 im Gewürzbasar in Eminönü (Istanbul) eine Explosion ereignete, bei der sieben Menschen ums Leben kamen, schloss die türkische Regierung auf einen Bombenanschlag durch die PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans. Vor dem Hintergrund des angespannten Verhältnisses zwischen der türkischen Regierung und der PKK, das immer wieder in gewaltsame Auseinandersetzungen mündete, wurden viele Akademiker*innen oder Journalist*innen, die eine Nähe zu kurdischen Gruppen hatten, ohne Befunde zu Freiheitsstrafen verurteilt.
Pınar Selek war eine von ihnen. Die Behörden nahmen ihre akademischen Forschungen zur PKK als Grundlage für den Vorwurf terroristischer Aktivitäten. Selek solle den Anschlag auf dem Gewürzbasar geplant und durchgeführt haben. Trotz einer unzureichenden Beweislage wurde sie zu lebenslänglicher Haft verurteilt uns saß bislang zweieinhalb Jahre in Haft, wo sie Folter und Misshandlungen erfuhr.
Gutachter*innen zweier renommierter Universitäten veröffentlichten Berichte, dass die Explosion nicht auf die Detonation einer Bombe, sondern auf eine versehentliche Anzündung eines Gaszylinders zurückgeführt werden könne. Da nicht genug Beweismittel zur Verfügung standen, wurden die Vorwürfe gegen Selek dreimal durch das oberste Kriminalgericht Istanbuls behoben. 2012 wurde das Verfahren jedoch erneut eröffnet – laut ihren Verteidiger*innen ein beispielloser Fall in der rechtlichen Geschichte der Türkei.
Internationale Organisationen zeigen Solidarität
Aktuell lebt Selek in Strasbourg, wo sie an der Universität eine Doktorarbeit in Politikwissenschaft schreibt. Als sie 2013 in Abwesenheit erneut zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde – nach nur einer Stunde Überlegung des Gerichts –, nahmen über 30 NGOs und Repräsentant*innen von politischen Parteien aus Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich in Solidarität an der Anhörung teil.
Der internationale Autor*innenverband PEN drückte seine Empörung über das Gerichtsverfahren aus und mutmaßte, dass man sie für ihre langjährige Unterstützung von Minderheiten in der Türkei bestrafen wolle. Amnesty International, MESA (Middle East Studies Association of North America) und Human Rights Watch forderten, neben vielen anderen Organisationen, ihre Freisprechung. Bis heute kämpft Selek beständig gegen die Vorwürfe. Sie gab das Schreiben nicht auf und veröffentlichte mehrere Bücher.
Keine Angst vor Kontroversen
In ihrer gesellschaftskritischen Studie Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt begleitet Selek den Weg vom Jungen zum Mann in der Türkei und stellt dabei die Beschneidung und den Wehrdienst als wichtigste Stationen heraus. Mit der Beschneidung stelle das Kind sein Geschlecht fest, der Militärdienst schließe seine Verwandlung zum Mann ab. In Interviews mit 58 Männern im Militärdienst geht die Soziologin Fragen der Identitätsbildung nach und wirft so ein Licht auf die sexistisch-patriarchalische Kultur der türkischen Gesellschaft.
„Sie zu Soldaten zu machen bedeutet, sie zu Männern zu machen. Männlichkeit und Militarismus definieren sich durch ihren Kontrast zur Weiblichkeit. Was für eine Männlichkeit wird im Militär definiert? Mutig? Heldenhaft? Stark? Hartherzig? Widerstandsfähig? Verantwortungsbewusst? Männer bauen Verbindungen zu diesen Idealen in der Institution des Militärs auf. Doch Männlichkeit wird im Militärdienst nicht zum Löwen, sondern zum Lamm.“ – Pınar Selek
Zuletzt sorgte sie mit ihrem Essay Weil sie Armenier sind, das 2015 zum 100. Jahrestag des Armenischen Genozids erschien, für Aufsehen. In dem Buch widmet sich Selek einem dunklen Kapitel der türkischen Geschichte, das in Schulen, Geschichtsbüchern und in großen Teilen der Gesellschaft verschwiegen wird und auch 100 Jahre später eine große Streitfrage darstellt. Ihre Furchtlosigkeit, auch komplexe und kontroverse Themen anzupacken und wichtige Debatten in der türkischen Gesellschaft zum Leben zu erwecken, ist beispiellos.