Heimat, der Ort in dem Land, in dem ich geboren worden bin, oder?
So einfach ist das leider nicht. Denn Heimat kann bei vielen Menschen eine Art Identitätskrise oder auch Trauer hervorrufen. Für Migrant*innen oder auch Personen, die in zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben, kann Heimat das Herkunftsland, die neue Lebenswelt oder aber auch beides sein. Aber müssen wir uns da festmachen? Sollte Heimat klar definiert werden?
Unsere Moderator*innen Fatima Remli und Erdal Erez sprechen mit Massoud Doktoran beim diesjährigen AStA-Festival contre le racisme am 21.06.2022 in Köln über die Assoziation mit dem Begriff Heimat und das Gefühl der Zerrissenheit, die dadurch hervorgerufen werden kann.
Ein Gefühl der Heimat
Ich glaube nicht, dass wir uns für unsere Heimat entscheiden. In ein anderes Land zu ziehen, eine andere Sprache zu lernen, eine Partei zu wählen, mögen Entscheidungen sein. Uns heimisch zu fühlen nicht. Natürlich gefällt uns die Vorstellung, die Heimat selbst bestimmen zu können. Dennoch glaube ich, dass die Selbstbestimmung etwas Nachträgliches ist.
Zuerst entsteht das Gefühl von Heimat, dann das Bekenntnis dazu. Für unsere Gefühle entscheiden wir uns nicht. – Massoud Doktoran
Meine Tante
Als meine Tante nach Deutschland auswanderte, packte sie ihre Heimat in einem Koffer. Auswanderer neigen oft zum Konservativismus, weil sie Angst haben, ihre Identität zu verlieren. Alles, was ich von Iran weiß, weiß ich von meiner Tante. In ihrer kleinen Wohnung beging sie alle iranischen Feiertage, um die Erinnerung an ihre Heimatfiktion zu bewahren.
Meine Tante, die sich immer so fremd in Deutschland fühlte, die die Sprache immer nur gut genug beherrschte. Meine Tante, die ich ständig über diese Heimat in ihrem Koffer ausfragte, um Teil ihrer Geschichte zu werden, die ich mir nie selbst erzählen konnte. Meine Tante, die ständig überlegte, zurückzukehren, die Heimat aus der Gefangenschaft ihres Koffers zu befreien, das Leben auf der Durchreise zu beenden.
Doch sie blieb.
Zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort kommen wir mit bestimmten Menschen in Berührung, die uns formen, uns das Gefühl der Heimat vermitteln. Dort lieben und hassen wir. Siegen und scheitern wir. Lachen und weinen wir. Zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort passieren diese Dinge mit bestimmten Menschen.
Und ein Gefühl erwacht.
Vor ein paar Monaten fragte ich meine Tante, ob sie immer noch in den Iran zurückwolle und sie machte diese wegwerfende Geste, als würde sie Traumbilder verscheuchen ‘Ich komme mit Iranern nicht mehr klar.’ Sie lächelte und sagte: ‘Deutschland ist jetzt unsere Heimat.’ Ich glaube nicht, dass wir uns für unsere Heimat entscheiden.
Über Massoud Doktoran
Massoud Doktoran, geboren in Berlin, wuchs als Deutscher mit iranischen Wurzeln in Köln auf. Sein Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft schloss er mit Master ab. 2019 veröffentlichte er seinen ersten Roman ‚Brenn Schule, brenn!‘. Darin beschäftigte er sich mit dem deutschen Bildungssystem und Rassismus. Außerdem schrieb er als Drehbuchautor mit Babak Ghassim die Serie „ETHNO“ für den WDR. Gemeinsam betreiben sie die Website Keschmesch.de, auf der er Essays zu gesellschaftlichen Themen sowie Kultur veröffentlicht. Bei Instagram kann man regelmäßig seine „Instaprosa“ (300-Wörter-Kurzgeschichten) nachlesen. Zurzeit unterrichtet er Deutsch, kreatives Schreiben und Drehbuch an Schulen.