Groß, blond, sexy und extrem stark

Ein Gespräch mit der transsexuellen Journalistin Michelle Demishevich

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„Was würdest du tun, wenn du alles Geld und alle Ressourcen zur Verfügung hättest, die du dir wünscht?“, frage ich. Dabei überlege ich, was eine Frau antwortet, die die meiste Zeit ihrer Berufstätigkeit arbeitslos oder unterbezahlt war, die in den schlimmsten Tagen unter Brücken schlafen musste, zu Sexarbeit gedrängt wurde, die Vergewaltigungen erlebt hat, aber niemals die Anklage der Täter. Was antwortet eine Frau, die in ihrem Heimatland nicht sicher ist? Die zur Migration gezwungen wurde?

Michelle überlegt nicht: „Ich würde ein Gebäude errichten, mehrstöckig. Eine Schule für Journalismus – offen für alle, für jedes Gender. Es gibt nur eine Altersbegrenzung: maximal 38 Jahre kann man sein, ältere will ich nicht. Es gibt nicht nur Kurse für Journalismus. Auch Musik, Tanz, Literatur, weißt du. Vielleicht Mathematik, Film, Theater… alles! Die Lehrkräfte sind offen und tolerant. Die Bildung ist kostenlos, ich bezahle alles. Es gibt allerdings eine Aufnahmeprüfung.”

„Wäre das die Universität der Träume?“, frage ich. „Die ‚Queer University‘!“, lacht Michelle und macht eine ausladende Bewegung mit dem rechten Arm, als würde sie den Namenszug schon sehen. „Warum denn nicht? Michelles Universität kann genauso sein. Das Leben ist kurz. Ich will etwas hinterlassen. Geld kann mich nicht verändern. Klar brauche ich Geld um zu leben. Aber wenn ich mehr habe, dann kann ich es für andere Menschen ausgeben.“

Ich würde ein Gebäude errichten, mehrstöckig. Eine Schule für Journalismus – offen für alle, für jedes Gender. Die ‚Queer University‘!

Michelle sieht mich an, wir sitzen übereck vor ihrer Lieblingsbäckerei in Leipzig. Wir haben unsere heißen Schokoladen getrunken, unser Gespräch ist fast schon vorbei. Dabei gibt es noch so viel zu fragen.

Als ich vor einigen Wochen angefangen habe, über Michelle Demishevich (geboren 1975) zu recherchieren, wurde mir schnell klar, dass sie eine außergewöhnliche Frau ist. Kürzlich erschien in der taz ein großseitiger Artikel von ihr: „Transmorde sind politische Morde“ (taz, 22. November 2017). Darin schreibt sie einmal mehr über ihr Thema: Transphobie in der türkischen Medienlandschaft, in der Türkei und in Europa. Michelle prangert nicht nur die Täter an; für sie geht es bei Transphobie um ein gesellschaftliches Problem, bei dem nicht nur Vergewaltiger, Mörder und erpresserische Vermieter Schuld tragen.

Menschen mit Transidentität werden systematisch unterdrückt, leben in Angst, erleben physische und psychische Gewalt. Werden ihrer Würde beraubt. Für sie gelten, wie für die meisten Frauen und Homosexuellen, andere Spielregeln als für die meisten cis Hetero-Männer (cis bezeichnet Menschen, deren Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde – Anm. d. Red.) : „Im Allgemeinen sind die Medien männlich dominiert“, sagt Michelle.

2012 wurde weltweit über sie berichtet, da sie als erste transsexuelle Reporterin in der Türkei beim türkischen Fernsehsender imc tv eingestellt wurde. Zwei Jahre später wurde ihr gekündigt – ihrer Aussage nach, weil sie roten Lippenstift trug. Dem Sender zufolge habe sie sich Berichten nach unprofessionell verhalten und die Berufsethik verletzt. Damals solidarisierten sich die Frauen der Nichtregierungsorganisation Pembe Hayat (dt.: Pinkes Leben) mit ihr und trugen aus Protest ebenfalls roten Lippenstift.

„Transsexuelle Journalist*innen werden genau wie andere Journalistinnen diskriminiert“, sagt Michelle, „nur in noch größerem Ausmaß.“ Das gilt nicht nur für die Türkei: „Die EFJ, die Europäische Journalisten Föderation, ist die wichtigste Presseorganisation Europas. Wenn die EFJ Veranstaltungen organisiert, werden nur Hetero-Männer und Hetero-Frauen eingeladen. Wenn ich dann frage, warum ich nicht eingeladen werde, muss ich mir anhören, dass ich selbstverständlich eine Einladung erhalte, wenn es um LGBTIs geht (LGBTI ist die Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual – Anm. d. Red.). Ich bin hier aber keine LGBTI-Aktivistin, ich bin Journalistin! Ja, meine Geschlechtsidentität ist trans, aber das ist nur nachts in meinem Schlafzimmer wichtig. Tagsüber bin ich Journalistin und nur Journalistin.“

„Ich habe keine Hoffnung, dass sich an der Repräsentation von Transmenschen in den großen türkischen Medien in den nächsten 20 Jahren etwas ändert“, sagt sie. Dabei unterscheidet sie nicht zwischen politischer Ausrichtung: Selbst die liberalen und linken Zeitungen in der Türkei schreiben nicht ausreichend offen und zeigen sich nicht solidarisch genug, findet Michelle.

„Liberale und Linke tragen die Nase oben, sind auf sich selbst fokussiert“, meint sie. „Wenn ich Diskriminierung anspreche, muss ich mir anhören: ‚Michelle, ja du hast recht, aber du solltest nicht so viel reden, sei besser ruhig.‘ Wie und warum soll ich ruhig sein? Wenn wir behaupten, feministische Journalist*innen zu sein, müssen wir gegen jedes anti-feministische und transphobe Element im Zeitungsgeschäft protestieren. Die Welt braucht feministische Journalist*innen! Die Zukunft ist feministisch, Feminismus wird das System verändern.“

Sogar in großen LGBTI-Organisationen finden ihre Themen nicht genügend Gehör. Michelle erzählt mir, wie sie eine LGBTI-Organisation kontaktiert habe, nachdem sie auf der Straße von Polizisten vergewaltigt wurde. Sie wünschte sich Unterstützung, wollte aktiv werden, gegen die Polizei kämpfen. Die Antwort lautete, dass zur Zeit keine Projekte über Vergewaltigung gefördert würden – aber wenn es im nächsten Jahr etwas gäbe, würde man sich melden.

Als „Michelle von Sachsen“ twittert sie täglich – über Leipzig, allgemeine Nachrichten und besonders über LGBTI-Themen, auf Deutsch, Türkisch und Englisch.

Wegen dieser und anderer Erfahrungen ist Michelle vor allem in Graswurzelbewegungen aktiv. Sie erzählt: „Als ich einen Monat lang auf der Straße leben musste schickte ich schließlich einer Freundin eine Nachricht: ‚Ich will dir meine Situation nicht erklären, aber wie es jetzt ist, kann ich nicht leben… kannst du mir helfen?‘ Sie antwortete: ‚Okay Michelle, warte zehn Minuten‘. Ich dachte das wäre eine Entschuldigung. Aber zehn Minuten später rief sie tatsächlich an: ‚Wir haben 4000 TL (Türkische Lira – Anm. d. Red.) gesammelt. Wo bist du, ich komme zu dir!‘ Da habe ich nur noch geweint. Besonders, weil ich direkt davor den Präsidenten der größten LGBTI-Organisation angerufen hatte.

‚Hallo alter Freund, wie geht es dir?‘, habe ich gesagt. ‚Ich lebe auf der Straße. Nachts muss ich meinen Körper verkaufen, um Zigaretten und Essen kaufen zu können. Kannst du mir bitte helfen? Ich kann das nicht länger ‘. Er sagte nur: ‚Oh Michelle, ja, ich verstehe dich – aber gerade jetzt habe ich einen Termin, der ist sehr wichtig. Pass auf dich auf! Ciao.‘

Michelle gibt ihre Hoffnungen nicht auf. Als „Michelle von Sachsen“ twittert sie täglich – über Leipzig, allgemeine Nachrichten und besonders über LGBTI-Themen, auf Deutsch, Türkisch und Englisch. „Es passiert immer wieder, dass mich junge Leute anschreiben, um Rat bitten“, erzählt sie. „Das freut mich sehr. Meine Hoffnung ist die Jugend, ich liebe die Jugend – abgesehen von ihrer Musik. Da bin ich meiner Generation treu: die Beatles, Queen – das ist meine Musik.“

Seitdem sie nicht mehr in Istanbul leben kann, wohnt sie in Leipzig. „Hier ist meine zweite Heimat“, strahlt sie und kommt aus dem Schwärmen kaum heraus. „Es ist die intellektuellste Stadt Deutschlands meiner Meinung nach. Meine Kolleg*innen in Köln sagen mir: ‚Michelle, was willst du dort? Das ist der Osten, der ist konservativ und nationalistisch‘. Ich sehe das nicht so. Hier komme ich leicht in Kontakt mit den Leuten und werde als Mensch angeschaut. Sie schauen mir in die Augen und sehen nicht erst irgendein Label, sehen nicht erst ‚die Transsexuelle‘. Hier habe ich tatsächlich meine Transsexualität vergessen. Ich habe jahrelang in Istanbul gelebt, einer Millionenstadt, laut und stressig. Leipzig ist klein und ruhig. Das brauche ich jetzt für mich und meine Projekte. Ich schreibe Artikel, besuche Veranstaltungen, ich will einen Podcast machen, vielleicht ein Buch schreiben.“

Ein Buch? „Ich schreibe über Istanbul, die Medien, den Journalismus – alle Fakten. Ja, es wird…. extrem erfolgreich!“, lacht sie. Und da ist wieder der Schalk in ihrer Stimme, der gleiche, mit dem sie sich mit mir verabredet hatte: „Du wirst mich schon erkennen: Ich bin groß, blond und supersexy!“

Michelle hält ihren weißen Rucksack auf dem Schoß und zieht ihn beim Reden immer wieder an sich. Sie tippt mit den kurzen, rot lackierten Fingernägeln auf den Tisch und gestikuliert entschieden in der Luft, während sie ruhig und klar spricht. Sie trägt ein Strickkleid und eine dicke schwarze Daunenjacke, hat blonde, glatte Haare, einen herzförmigen Haaransatz. Sie ist ungeschminkt und immer wenn sie lächelt, sieht man eine kleine Zahnlücke. Damit ist sie nicht extrem auffällig, alles andere als langweilig, aber auch kein schriller bunter Vogel. Ich finde, sie passt gut in dieses Café in der Leipziger Innenstadt.

Michelle erzählt, dass Transmenschen in der Türkei eigentlich keine Chancen auf ein normales Leben haben, auf einen sicheren Beruf, auf eine sichere Wohnung.

Ihren Glauben, dass sie auch mit ihrer Transidentität viel schaffen kann, hat sie von ihren Vorbildern: der französischen Schauspielerin, Journalistin und Aktivistin Hélène Hazera, geboren 1952, und der türkischen Aktivistin Demet Demir, geboren 1961. Hazera war die vielleicht erste transsexuelle Journalistin Europas, Demir kämpft für die Rechte von Transsexuellen und Sexarbeiter*innen in der Türkei. „Natürlich muss nicht jeder trans-idente Mensch aktiv werden“, betont Michelle. Aber sie erwartet Respekt für ihre Arbeit.

Wütend macht sie der populäre transsexuelle Schauspieler Rüzgar Erkoçlar. Zusammen mit der Sängerin und Kult-Diva Bülent Ersoy ist er der wohl berühmteste trans-idente Mensch in der Türkei. Die beiden sind Beispiele für den widersprüchlichen Umgang mit Transsexualität, denn sie genießen große Anerkennung und Respekt in der türkischen Bevölkerung. „Rüzgar bezeichnet sich aber nicht selbst als trans“, kritisiert Michelle. „Er nennt sich einen ‚echten‘ türkischen Mann, einen ‚Enkelsohn der Osmanen‘. Mamma mia! Du bist trans und du solltest deine Identität akzeptieren, denn ich kämpfe mit meinem Leben für deine Rechte.“

Das Ausmaß der Gewalt, mit dem die meisten Transmenschen konfrontiert werden, erschüttert. Michelle erzählt, dass Transmenschen eigentlich keine Chancen auf ein normales Leben haben, auf einen sicheren Beruf, auf eine sichere Wohnung. Der einzige Beruf, in dem sie toleriert sind, ist Sexarbeit. Ich frage mich, wie es für Michelle ist, immer wieder dagegen aufzustehen und ihre eigenen traumatischen Erfahrungen jemandem wie mir zu erklären, die sie eigentlich nicht kennt. Immer wieder das gleiche erzählen – ohne dass sich etwas ändert? Oder ändert sich doch etwas?

„Während der Gezi-Proteste liefen Transfrauen und Feminist*innen an vorderster Front“, erinnert sich Michelle. Hinter uns kamen die Männer. Warum? Einfach, weil wir jahrzehntelange Erfahrung haben mit politischen Aktionen und mit der Gewalt der Polizei.“ Die Gezi-Proteste sind für Michelle deshalb eine hoffnungsvolle Erinnerung: Was sie sich sonst oft nur wünschen kann, war da möglich: zusammen aufstehen, zusammen Mut haben, zusammen kämpfen.

Nach dem Protest kamen mehrere hunderte feministische Gruppierungen des ganzen Landes zusammen und bildeten eine der größten zivilgesellschaftlichen Plattformen der Türkei: die 25 Kasım Platformu (dt.: Plattform des 25. November). Der Name bezieht sich auf dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und ehrt die Schwestern Mirabal. „Kennst du die Schwestern Mirabal?“, fragt mich Michelle. „Dominikanische Republik, 1960 – vier Schwestern, die gegen den diktatorischen Präsidenten kämpften. Soldaten haben drei der Schwestern vergewaltigt und getötet, daraufhin sind karibische und lateinamerikanische Feminist*innen auf die Straße gegangen, das war am 25. November. Ich habe diese Geschichte als Kind gelesen und dachte: ‚Wow, ich will wie die Schwestern Mirabal werden‘. Von ihnen habe ich meinen Aktivismus.“ Das Buch, in dem Michelle die Geschichte las, hatte sie bei ihrer Tante entdeckt. „Sie war sehr gebildet, hat viel gelesen. Wissen ist unser Schatz!“, sagt Michelle.

Wenn Wissen unser Schatz ist, ist es nicht naiv, von der Queer University zu träumen. Es ist kämpferisch. Ich frage mich, wie leicht es Michelle wirklich fällt, daran zu glauben. Als wir uns verabschieden sagt sie resolut: „Vielleicht können wir ja von Leipzig aus auch Istanbul verändern.“

Fotos: Cihan Cakmak

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