Gaye Su Akyol

Hier kommt die Stimme der Rebellion

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Gaye Su Akyol gilt als eine der spannendsten Stimmen der Istanbuler Musikszene, die sich von Kurt Cobain gleichermaßen inspirieren ließ wie von der anatolischen Musik-Ikone Selda Bağcan. So braute sich in ihrem Kopf eine explosive Mischung, die traditionelle anatolische Balladen mit futuristischem Surf-Rock und Post-Punk kombiniert und erschafft ein eigenes Universum aus nahöstlicher Tradition und urbanem Underground. Dabei kommt ein Zusammenspiel von psychedelischen E-Gitarren und dröhnender Percussion mit der arabischen Laute Oud, der Langhalslaute Bağlama, elektronischen Beats und Synthies auf Violine zustande. Ihre Texte beruhen auf ihrer persönlichen Philosophie und Sicht auf das Leben. Durch die avantgardistischen Videos und die ausgefallene Bühnendekoration wird ihre Musik auch visuell zum Spektakel. Darüber hinaus ist sie ein Sprachrohr für die LGBTQI* Community.

Kürzlich erschien Gaye Su Akyols EP Yort Savul: İsyan Manifestosu (tr. Yort Savul: Das Manifest einer Rebellion); nun arbeitet sie an ihrem neuen Album.

Mit deiner Musik feierst du auch international große Erfolge. Was ist deiner Meinung nach der Grund dafür? Welche Gefühle löst der internationale Erfolg in dir aus?

Ich bin hinter einer Musik her, die originell ist und den Geist der Zeit trifft, aber gleichzeitig auch die Vergangenheit sowie die Zukunft beinhaltet und eine Philosophie verfolgt. Ich lege Wert darauf, eine qualitative Arbeit zu erzeugen und eine eigene Sprache sowie einen eigenen Stil zu entwickeln. Ob ein Werk das Rennen gegen die Zeit gewinnt, entscheidet die Zeit selbst. In meinen Songs gebe ich die Freude, den Kummer und die Begebenheiten des Landes, meine eigene Archäologie sowie das postfaktische Klima, welches uns als faktisch serviert wird, wieder. Darüber hinaus vereint meine Musik völlig verschiedene Stile. Auch wenn Gitarren dominieren, ist sie geprägt von dem Leid, den Rhythmen und Kompositionen der türkischen Musik sowie von Rock ’n’ Roll, Anatolischer Popmusik, Klassischer Türkischer Musik, Volksmusik, Jazz und vielen anderen Genres, die mich bisher inspiriert haben. Aber am Ende des Tages hat sie eine eigene Sprache. Vielleicht sind das Gründe, weshalb Einige meine Musik als reichhaltig empfinden. Von vielen Musiker:innennamen hört man erst Jahre später. Ich konnte die Früchte meiner Arbeit bereits im jungen Alter ernten und deshalb schätze ich mich sehr glücklich.

Du arbeitest derzeit an deinem neuen Album. Du sagtest, dass du, wenn alles gut läuft, mit einem/r weltbekannten Künstler:in zusammenarbeiten wirst. Lief alles gut? Wer ist diese:r Künstler:in?

Merkwürdigerweise hat sich eine Großzahl an Musiker:innen, die ich feiere, an meinem aktuellen Projekt beteiligt. Es waren sogar so viele, dass wir uns überlegt haben, aus den Kollaborationen ein separates Album zu veröffentlichen. Derzeit arbeite ich mit einem/einer Musiker:in, von der/dem ich großer Fan bin, an einem neuen Song. Ich will keinen Namen nennen, weil ich möchte, dass es eine Überraschung wird und wir uns alle gemeinsam freuen können, wenn es soweit ist. Aber soviel kann ich verraten: Uns erwartet Schönes.

Kannst du uns weitere Details bezüglich deines neuen Albums verraten? Steht das Releasedatum schon fest? Wird es wie auf dem letzten Album einen Coversong oder “damar” Songs wie Bir Yaralı Kuştum geben?

Während der Pandemiephase habe ich mich restlos auf das Songwriting fokussiert. Ich arbeite an neuen Ideen und schreibe pausenlos neue Songs. In dieser Zeit haben wir es derart vermisst, zu feiern und glücklich zu sein, dass ich mich dabei ertappt habe, Tanzmusik zu schreiben. Vielleicht kommt bald solch eine Überraschung. Das neue Album wird wahrscheinlich gegen Oktober oder November rauskommen. Bis dahin arbeiten wir fleißig weiter.

Welcher Gaye-Su-Akyol-Song beschreibt deiner Meinung nach die aktuelle Situation in der Türkei am besten?

Da fallen mir mehrere Songs ein, aber ich denke Halimiz İtten Beter (tr. Schlimmer als Hunde) trifft am ehesten zu. Der Song fasst unsere jetzige Lage am besten zusammen, denn uns geht es mies und die Zukunft ist unabsehbar, aber trotz allem versuchen wir, unsere Laune zu behalten.

Not a penny in my pocket
Yet I own the seven realms
My troubles fat and happy
How treacherous are the passing years
My fortune wears the willow
Always settled for less
Worse than dogs, we have the spirit of lords
Hey, bring a straight double shot

Ich folge dir auf Social Media und fand letztens ein Posting von dir sehr interessant. Es ging um Love Bombing. Ich gehe davon aus, dass auch in deinem Leben ein:e Narzisst:in existiert hat. Wie hast du dies bemerkt? Denn es ist gar nicht so einfach, das zu realisieren, wenn man mit Aufmerksamkeit und Zuneigung überschüttet wird. Wie gingst du damit um?

Die Zahl der Personen mit narzisstischen Auffälligkeiten sollte man keineswegs unterschätzen. Sie treten ins Leben vieler Menschen und manchmal schaffen sie es leider auch nicht raus. Eigentlich besitzen alle von uns narzisstische Eigenschaften. Solange es sich um ein normales Maß handelt, wird dies auch keine großen Probleme bereiten. Aber nach einem gewissen Punkt erreicht man einen pathetischen Zug. Ich habe durch verschiedene Beziehungen Personen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung in meinem Leben gehabt. Mein:e Psycholog:in sagte mir: „Die Frage, warum du diesen Menschen erlaubst, an deinem Leben teilzuhaben oder woher dieses Bedürfnis kommt, ist viel wichtiger.“ Was ist es für ein Bedürfnis, das uns dazu bringt, falsche Beziehungen als richtige wahrzunehmen? Ist es das Bedürfnis, eins sein zu wollen? Oder das Bedürfnis, mehr geliebt zu werden? Ich denke, diese Fragen sollten wir uns stellen, ohne uns dabei Vorwürfe zu machen. Sobald man bemerkt, dass jemand einen emotional manipulieren will oder man anfangs angehimmelt, aber später abgewertet wird, sollte man die rote Karte zeigen. In dieser Phase sollte man professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Ich kann nur soviel sagen:

Wenn es uns auf dieser Welt gibt, dann sind wir auch wertvoll. Erlaubt keinem Menschen, euch wertlos fühlen zu lassen!

In deiner Kindheit war es dein Traum, zu malen und zu musizieren. Also hast du deinen Traum verwirklicht. Träumst du immer noch? Was hast du für weitere Träume?

Sobald man aufhört zu träumen, fängt meiner Meinung nach der Tod an. Meine Antwort auf deine erste Frage lautet deshalb: Ja, ich träume und fantasiere immer noch und habe nie damit aufgehört. Zudem träume ich auch viele schräge und fantastische Sachen. Aber deine Überzeugung wird zu deiner Realität. Zurzeit träume ich oft von den Musiker:innen, mit denen ich für mein neues Album zusammenarbeite und von meinen neuen Musikvideos. Dann träume ich von demStudio, das ich irgendwo in Europa aufbauen möchte, oder von weiteren zukünftigen Studios in vielen Ecken in Anatolien. Ich habe viele Träume und Ziele und gebe täglich mein Bestes, um diese zu verwirklichen. Auch wenn ich diese nie erreichen sollte, ist es eine großartige Motivation!

Deine Überzeugung wird zu deiner Realität.

Was erwartest du von deiner Musik? Was willst du mit ihr ausdrücken?

Wenn die Musik es selbst nicht schafft, sich auszudrücken, gibt es dort eigentlich ein Problem. Ich erwarte von meiner Musik, dass sie mich, die Gegenwart, unser Leid, unsere gemeinsame Vergangenheit sowie Zukunft, die postfaktische Zeit, in der wir uns befinden, und das bisher Unausgedrückte, wiedergibt. Mein Wunsch ist es, eine zeitlose Arbeit zu leisten. Wenn man meine Musik nach hundert Jahren immer noch hören sollte, will ich, dass sie diesen Menschen von der heutigen Zeit erzählt. Deswegen erwarte ich von meiner Musik, dass sie ehrliche:r Zeug:in der Geschichte wird und Gefühle, Leidenschaft und Lust zum Streben nach Sein triggert.

Warum bist du glücklich, warum unglücklich?

Es gibt viele Gründe, sowohl um glücklich, als auch um unglücklich zu sein. Ich glaube, dass es manchmal in der eigenen Hand liegt und dass es eine Entscheidungssache ist. Während es recht einfach ist, unglücklich zu sein, erfordert das Glücklichsein physisch sowie psychisch großen Einsatz. Ich bevorzuge diesen Einsatz mit all seinen Schwierigkeiten und Herausforderungen. Klar, einerseits verhungern Menschen, die Justiz versagt und die aktuelle Lage ist einfach nur scheiße. Aber andererseits gibt es Menschen, die nach Freiheit streben und Menschenrechte sowie Gerechtigkeit als wichtig erachten. Natürlich ist es einfacher, glücklich zu sein, wenn gleiches Recht für alle gilt. Vielleicht werden wir dieses Ziel niemals erreichen, aber wir müssen daran so arbeiten, als würde es morgen verwirklicht werden. Das Bemühen um die Erreichung eigener Ziele verleiht dem Leben Sinn. In diesem Sinne ist für mich das größte Glück die Wahrnehmung des Seins, in dieser merkwürdigen Realität spielerisch zurecht zu kommen, unsere Träume fest in Händen zu halten und andererseits natürlich uns zu organisieren und für unsere Rechte zu kämpfen und einzustehen.


 

 

 

Wovor haben deiner Meinung nach Menschen Angst, die die Existenz der LGBTQI* leugnen?

In erster Linie haben sie Angst vor sich selbst. Sie haben Angst davor, dass ihre süßen Popöchen vom Thron stürzen. Sie haben Angst davor, dass das Patriarchat fällt und das ganze Volk gleichberechtigt wird. Sie haben Angst vor freiem Denken. Sie haben Angst davor, dass die beschissene Ordnung zerstört wird. Sie haben Angst davor, dass ihnen ihre Sonderrechte weggenommen werden. Kurz gesagt: Sie haben vor zig beschissenen Dingen Angst! Sie haben aber recht, Angst zu haben, denn alles, wovor sie sich fürchten, wird auch passieren. Sie können vor der globalen Wirklichkeit nicht wegrennen. Sie können vielleicht vor der Idee der Emanzipation des Menschen gedanklich wegrennen, aber früher oder später wird das Resultat sie einholen. Sie werden nicht länger auf ihren komfortablen Sitzen, die ihnen das Patriarchat zur Verfügung gestellt hat, Platz nehmen können. Sie haben große Angst vor LGBTQI* und Frauen, weil sie sich derer reinen und wahren Kraft bewusst sind. Beim CSD rufen wir immer ganz laut folgende Parole: „Die Welt würde auf den Kopf gestellt werden, wenn Schwuchteln frei wären!“ (tr. Dünya yerinden oynar, ibneler özgür olsa!) Das Wort “Schwuchtel” kann durch x-beliebiges ersetzt werden: Frauen, Transgender, Lesben usw. Die Welt muss endlich auf den Kopf gestellt werden, denn gerade ist sie unnütz und erbärmlich. Wir leben in einem katastrophalen System, in dem wir ständig Krieg und Ausbeutung erleben, und wir alle sehen, wie dieses System nicht funktioniert. Es muss sich alles ändern.

Du bist eine mutige Künstlerin, die sich nicht davor scheut, ihre oppositionelle Haltung offen zu zeigen. Wurdest du deswegen in deiner Musikkarriere mit Schwierigkeiten konfrontiert?

Wenn mir sowas über den Weg läuft, trete ich es nieder und laufe weiter. Deswegen bezeichne ich es nicht als Schwierigkeit. Beispielsweise werde ich ab und an von einigen Grobianen tyrannisiert, aber das ist für mich eine Ehre. Ich bin eine, die kein Blatt vor den Mund nimmt und werde auch für immer so eine Person sein. Es gibt zahlreiche Menschen, die genauso denken und handeln wie ich. Aus diesem Grund denke ich nicht, dass ich in dieser Hinsicht besonders oder ungewöhnlich bin. Ich setze mich nur dafür ein, dass wir unsere Grundrechte erhalten. Und das tue ich mit meiner Musik, meiner Stimme und Existenz. Meine bescheidene Empfehlung an alle renk.-Leser:innen wäre: Habt keine Angst davor, mit der richtigen Sprache über Gleichberechtigung, Zusammenhalt und Gerechtigkeit zu sprechen. Wir sind im Recht und es gibt keinen Grund dazu, uns zurückzuziehen.

Wie sieht deine Utopie aus?

In meinen Songs habe ich einige Utopien entworfen. In meiner Utopie haben alle Menschen gleiche Rechte unabhängig von ihrer Sprache, Orientierung, Rasse, Herkunft oder Neigung. Ich träume von einer Utopie, in der keine Grenzen existieren, Menschen nicht ausgebeutet werden und in der die Welt unsere Heimat ist. Ich wünsche mir, dass dies eines Tages real wird.

Wogegen rebellierst du?

Meine Rebellion richtet sich gegen diejenigen, die Menschen dazu bringen, Menschen zu verletzen, gegen diejenigen, die unsere Rechte rauben, gegen diejenigen, die nach bösen Maximen handeln und uns ihre Diktatur aufzwingen, gegen diejenigen, die ihre Macht ausnutzen und uns leiden lassen, gegen diejenigen, die Menschen manipulieren und sie ausnutzen.

Es ist kompliziert genug, ein sinnvolles Leben führen zu können. Ich rebelliere gegen diejenigen, die uns das Leben noch schwerer machen und uns übel mitspielen..

Hier ihr aktuellster Song:

Zum Interview auf türkisch:

Interview: Berivan Kaya
Lektorat: Isabel Eisfeld
Fotos: Aytekin Yalçın

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