Nach drei Jahren und tausenden von unvergesslichen Erlebnissen in der Türkei bin ich nun seit vier Monaten wieder in Berlin. Obwohl ich vorher schon hier gelebt habe, fällt es mir gerade besonders schwer mich wieder zu integrieren. Das heißt für mich, Rakı jedes Wochenende und ein Spotify-Cache, der voll von Künstlernamen mit den Buchstaben ı, ş, und ğ ist. Darunter ist eins meines Lieblingslieder: Gurbet von Özdemir Erdoğan.
Gurbet. Das könnte man als „Ausland“ beschreiben, aber nur wenn man als Übersetzer faul ist – denn dafür hat die türkische Sprache das Wort yurt dışı. Gurbet ist ein Ort, der weit weg von der Heimat ist; Ein Ort, an dem man sich vielleicht niederlässt; Ein Ort, an dem man zumindest eine gewisse Zeit bleibt. Aber das ist nicht alles! Das Wort birgt ein Gefühl des Vermissens und der Sehnsucht. Die vielen Gastarbeiter der 60er Jahre kannten es und genau darüber singt Erdoğan in seinem Lied – über seine Liebe, die weit weg in der Heimat ist. „Memleketten bir haber mi var?“ (Gibt es Neuigkeiten von zu Hause?), lamentiert er traurig.
Gurbet hat auch einen Gegenbegriff: Sıla. Was Sıla bedeutet, kann man leicht erraten: Die Heimat; der Ort, wo man herkommt. Für die Gastarbeiter von gestern war das die Türkei. Und obwohl ich nicht in der Türkei geboren bin, kann ich sehr gut verstehen, wonach sich die damaligen Gurbetçis gesehnt haben. Denn mittlerweile ist die Türkei auch meine zweite Sıla.
Wenn der Small Talk scheitert und alle ganz unangenehm schweigen, wenn man keine vernünftige Teestube findet, wenn man unterm grauen, regnerischen Berliner Himmel steht, dann vermisst man Sıla, und verflucht Gurbet. Dann aber, wenn man glaubt in Melancholie zu versinken, stolpert man plötzlich über eine Packung CİN Kekse oder hört ein Lied von Sıla (die Sängerin, nicht die Heimat) aus einem vorbeifahrenden Auto, und merkt, dass die Türkei gar nicht so weit weg ist.
Das beste Heilmittel gegen Heimweh also: die türkischen Läden auf der Straße. Die, die von Türkeistämmigen Leuten betrieben werden, werden auch nach ihnen benannt. Oft erinnern die Namen der Geschäfte an Freunde, die genauso heißen. Ein kurzer Spaziergang auf der Hermannstraße wirkt wie ein starkes Schmerzmittel. Gurbet wird plötzlich ein bisschen zu Sıla.
Da ist Anıls Telecafe: Es erinnert mich an meinen Freund, den ich aufgrund seiner langen Haare bis heute als „Anıl Haare“ in meinem Telefon eingespeichert habe – er trägt sie natürlich längst kurz.
Blumen Melek bietet mir nicht nur Pflanzen in allen Farben, sondern sie weckt auch die Erinnerung an meine mutige Schülerin, die „Ich hab’ keinen Bock auf Diskriminierung“ sagte, als jemand abwertend über eine Minderheit sprach.
Gizem Supermarkt erinnert mich an meine Mitbewohnerin in Ankara, die niemanden mochte, die keinen „Halay“ tanzen konnte und an Gizem, die selber im Gurbet war, als sich die Anschläge in Ankara häuften. Sie hat mir immer eine Nachricht über Whatsapp geschickt, um nach meinem Sicherheitsstatus zu fragen.
Im Endeffekt sind es nicht die CİN Kekse und der Small Talk, den man vermisst. Es ist nicht der Ort, sondern es sind die Menschen, die man sich herbei wünscht. Während meiner Zeit in der Türkei habe ich Sıla, mit meiner Rückkehr nach Berlin Gurbet kennen gelernt. Ich glaube, es ist heutzutage viel leichter über Gurbet hinweg zu kommen, als es das für die Gastarbeitergeneration war. Damals konnte man nicht tagtäglich skypen oder eine Whatsapp-Nachricht schreiben. Vielleicht hat es für einige Gastarbeiter aber auch gereicht, eine kurze Runde durch den Kiez zu drehen. Vielleicht haben sie auf den Schildern der Läden auch das wieder gefunden, wovon Özdemir Erdoğan besungen hat.
Hier der inspirierende Track GURBET von Özdemir Erdoğan:
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