Dersim Alexanderplatz heißt der neue Titel für die türkische Übersetzung des Romans von Imran Ayata. Der Name des Buches ist Programm. Es geht um Dersim-Berliner Verflechtungen im Kontext der ersten Generation an Gastarbeiterkindern. Anlass genug uns mit dem Autor und Campaigner Ayata über sein inspirierendes Buch zu unterhalten.
Imran Abi, du bist 1969 in Ulm geboren und hast bereits drei Bücher veröffentlicht, unter anderem „Mein Name ist Revolution“, in dem es um den Berliner Devrim und dessen Selbstverortung zwischen und innerhalb der kurdisch-türkisch-deutschen Community geht. Was war die Motivation diese Story zu schreiben?
Ich wollte eine Geschichte erzählen, die mich interessiert, vielleicht nicht konventionell ist und, die man sonst so nicht liest. Ob das einem immer gelingt oder nicht, sei mal dahingestellt. Jedenfalls wollte ich eine Geschichte schreiben, in der Realitäten literarisch ausgeleuchtet werden, die in solchen Konstellationen zu kurz kommen. Der Protagonist dieses Romans bricht mit bestimmten Klischees, die wir bezogen auf diese Personengruppen im Kopf haben. Und das ist Absicht. Es ist der Versuch, aus diesen identitären Zuschreibungen raus zu kommen, obgleich ich im Roman selbst diese Klischees aufnehme, nutze und ironisiere. Das ist der Trick. Man hat den Eindruck, es gehe um Identität. In Wahrheit geht es gar nicht darum, zumindest nicht vordergründig.
Das Buch handelt von Freundschaften und von Beziehungen unterschiedlicher Art – von Liebes-, familiären und freundschaftlichen Beziehungen, die eigene Dynamiken, Schönheiten und Komplikationen haben. Und dann geht es in meinen Roman irgendwie auch um die Nullerjahre, dieses neoliberale und scheinbar unpolitische Umfeld, in dem die Hauptfigur Devrim sich bewegt. Eine Zeit, merkwürdiger Gefühle und einer Zeit, in der manche Gefühle keinen Platz mehr zu haben scheinen. Da ist die Szene im kurdischen Dorf, wo Devrim erstmals das Grab seiner Eltern besucht. Als Leser*in denkt man vielleicht, jetzt passiert es, jetzt passiert emotional mit diesem Menschen etwas, er bricht vielleicht zusammen, aber Devrim empfindet einfach nichts. Ansonsten lebt Devrim das Leben von einer Party, von einem Rave, von einer Droge zur nächsten. All das macht was mit ihm oder eben auch nicht.
Sehr interessant. Allerdings ist Devrim schon ein sehr offener Charakter. Die Leser*innen haben die Möglichkeit sich in die Hauptfigur hineinzudenken, also die eigenen Gedanken und Gefühlen in den Charakter zu projizieren. Deswegen hatte ich das Gefühl, dass das Buch auch viele in unserer Generation berühren könnte.
Absolut. Es ist jetzt in der Türkei erschienen. Die Besprechungen in der Türkei handeln genau von diesem Thema. Eigentlich könnte ich fast sagen – schade, dass der Roman damals rauskam, denn heute wäre es vielleicht interessanter, weil die Debatten um Identität, Postidentität, Postmigrantisch usw. eine neue Renaissance erfahren. Mir fällt auf, dass es in den Rezensionen in Türkiye vor allem um den Roman geht und weniger um mich und meine Biografie. Also ganz anders als in den Besprechungen in Deutschland. Hier kommen die Besprechungen ohne meine Biografie kaum aus.
Im Buch kommt auch das Thema „Ethno“- Liebe vor. So wird es im Buch genannt. Das heißt, Leute aus derselben Community heiraten untereinander. Ich habe mich gefragt, ob dich das Thema damals beschäftigt hat und wie denkst du heute darüber?
Es hat mich folkloristisch beschäftigt. Ich habe sehr lange in Frankfurt gelebt, dort hatte ich damals mit meinen engsten Freunden diesen Talk. Wir redeten uns ein, dass eine Beziehung mit einer Kanak Lady viel unkomplizierter, romantischer und was weiß ich wie noch sein würde. The real shit, eben. Sie verstehen unsere Codes – das war unsere Projektion. Die speiste sich aus Erfahrungen mit deutschen Frauen.
Wir lachten darüber, weil wir alle schon den Vorwurf gehört hatten, warum wir in Gegenwart von unseren Eltern nicht Hände halten und Zärtlichkeiten austauschen. Die große Frage dann: Liebst du mich nicht? Stehst du nicht zu mir? Solche Fragen würden uns Ladies aus der Community einfach nie stellen, hofften wir. Sie wissen schon, was geht und was nicht geht. Leider ist die Realität nicht ganz so schlicht. Man kann schon verdammt unglücklich auch mit einer Kanakin sein. Am Ende ist es halt doch eine Projektion. Und gleichzeitig schaffen ähnliche Biografien und Sozialisationen eine andere Form von sozialer Nähe.
Das beschränkt sich nicht auf Liebesbeziehungen. Wir beide kennen uns erst seit wenigen Minuten, sofort sind einige Codes klar. Ganz verständlich nennst du mich Imran Abi. Auf die Idee käme ein deutsch-Deutscher halt nicht.
Im Roman geht es vor allem um die erste Generation an Gastarbeiterkindern. Doch hat der Zuzug von Türkeistämmigen bis heute nicht aufgehört. Wie nimmst du die sogenannte yeni dalga – „Neue Welle“ die aus aktuell politischen, sozialen Gründen aus der Türkei nach Berlin migriert ist, wahr?
Gibt es Unterschiede zwischen den Nachfahren der Gastarbeitergenerationen und den Neueingewanderten und wie äußern sich diese?
Erstens merkt man, dass es eine andere Art der Migration ist. Ohne es verallgemeinern zu wollen, der überwiegende Teil der neuen Leute ist eher aus dem Bildungsbürgertum, der gebildeten Mittelschicht oder aus der Upperclass, beyaz türk – weiße Türk*innen. Viele sind Akademiker*innen und Künstler*innen. Ihre Selbstverortung ist ja die Differenz und die Abgrenzung. Sie sagen offen, dass sie sich nicht als ein Teil der migrantischen Community sehen, die sie hier vorgefunden haben. Das hat wahrscheinlich auch Klassengründe. In gewisser Weise finde ich es wahnsinnig konsequent, dass die Neuzugewanderten in Deutschland diese Trennlinien markieren. Es ist ehrlich. Auch das wenig ausgeprägte Interesse an dem migrantischen Leben. Nach 60 Jahren Migration von der Türkei nach Deutschland, interessiert das hiesige Leben in der Türkei eher wenig. Ich würde sogar von einer Ignoranz sprechen, die man nur punktuell brechen kann.
Fatih Akin hat das mit seinen Filmen zum Beispiel geschafft. Das ist wie in Deutschland: Erfolge funktionieren. Natürlich auch Verwandtschaften. Ich beobachte, dass diese Ignoranz in der Türkei sich bei den Neugezogenen fortsetzt. Das gilt natürlich nicht für alle Neugezogene. Es gibt auch unter ihnen Menschen, die neugierig sind, das Gespräch suchen und nicht in ihrer eigenen Blase leben wollen. Letztlich ist die neue Migration aus der Türkei ein Beleg dafür, dass es eben keine Gemeinschaft gibt, die auf Ethnizität beruht.
Das Thema um Selbstverortung und Zugehörigkeit spielt ja auch in deinem Roman eine sehr wichtige Rolle. Für uns junge Menschen sind das ebenfalls wichtige Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen. Dein Buch endet ohne ein Fazit, aber vielleicht hast du ja ein persönliches für uns?
Nein, Nein. Ich fühle mich dazu nicht berufen. Unverkennbar ist eine neue Generation am Start, die ihre eigenen Interessen, Leidenschaften und Positionen hat. Mir fällt auf, mit welcher Lässigkeit und Selbstverständlichkeit zum Teil diese Generation sich artikuliert – schriftstellerisch oder künstlerisch. Das ist schon sehr anders als in meiner Generation. Schon die Vielzahl der Stimmen ist beeindruckend. Es gibt in deiner Generation sehr viele Stimmen und Protagonist*innen. Zu meiner Zeit konntest du beispielsweise linke, aktivistische Migrant*innen an zwei Händen abzählen. Und wenn man heute genau hinschaut, fällt einem auch die Heterogenität in der Repräsentation auf, auch wenn der Hang zu Identitätspolitiken dieser Tage zu dominieren scheint.
Wichtig ist aber auch, dass sich die staatliche Politik bezogen auf Migration und Einwanderung verändert. Das geschieht noch immer sehr langsam, aber ignorieren kann man es nicht. Außer rechten und rechtsextremen Politiker*innen findest du kaum noch Politiker*innen, die in Frage stellen, dass Almanya eine Einwanderungsgesellschaft ist. Dass sich das verändert hat, liegt vor allem an Kämpfen, die Migrant*innen ausgefochten haben – auch schon vor meiner Generation und eigentlich schon seit Tag 1. Aber es gibt keinen Grund, die Kämpfe einzustellen. Denn die Bedrohungen durch rechtsextreme Netzwerke in der Polizei und in der Bundeswehr sind real, die rassistischen Attentate und Morde sind es auch.
Dabei sind wir sind nicht alle gleichermaßen von Rechtsextremismus und Rassismus betroffen. Diese reflexartigen Statements nach Hanau, das seien Angriffe auf uns alle gewesen, machen mich auch wütend, selbst wenn ich die gutgemeinte Intention erkenne. Es stimmt – Rassismus und Rechtsextremismus sind gesamtgesellschaftliche Probleme, damit auch die der Mehrheitsgesellschaft, aber von den Folgen menschenverachtender Politik sind eben nicht alle betroffen.
Allerletzte Frage, weil wir so viel über das Buch gesprochen haben. Hast du heute noch Sehnsucht nach Dersim?
Und was für eine! Ich bin vielleicht nicht so viel im Leben rumgekommen. Aber egal, wo ich war, ich habe es immer mit Dersim verglichen. Welchen Berg ich auch sah, keiner kann es mit dem Munzur aufnehmen. Ich habe schon an einigen Flüssen gesessen, doch an keinem fühlte ich mich so gut wie am Munzur. Lustig nicht? Dass die Berge und der Fluss Munzur heißen. Dersim ist ein Sehnsuchtsort für mich. Deswegen habe ich ihn in den Roman reingeschmuggelt.
Eyvallah Imran Abi – herzlichen Dank für das schöne Interview.
Interview: Mahir Türkmen
Fotos: Michael Kuchinke-Hofer