adressarrow-left Kopiearrow-leftarrow-rightcrossdatedown-arrow-bigfacebook_daumenfacebookgallery-arrow-bigheader-logo-whitehome-buttoninfoinstagramlinkedinlocationlupemailmenuoverviewpfeilpinnwand-buttonpricesine-wavetimetwitterurluser-darwinyoutube
Reisen

Wahrsagerin – ein etwas anderer Beruf

Zu Besuch bei der Kartenlegerin Sabine Sikarcioglu in Paris

Ihre Kindheit hat sie in Istanbul verbracht, wo ihre Großmutter ihr den Kaffeesatz gelesen hat. Dann ist sie nach Paris gekommen und hat ihren Freundinnen die Zukunft vorausgesagt. Heute legt die Wahrsagerin, bekannt unter Sabine Sikarcioglu, fast rund um die Uhr Karten. 

Der Boulevard de Magenta ist fast zwei Kilometer lang und verbindet das neunte und zehnte Arrondissement. Es ist Sonntagvormittag und unter den Markisen der Cafés trinken die Pariser*innen ihren ersten Espresso. Dazwischen sitze ich und verbrenne mir die Lippen an dem bitteren Kaffee. Ich habe noch einen Moment Zeit, bis ich mich mit Sabine Sikarcioglu in ihrem Kabinett treffe. Sie ist Wahrsagerin, legt Tarot-Karten und stammt aus Istanbul. Das ist alles, was ich bislang über sie weiß. Ich selbst habe mich nie mit dem Wahrsagen beschäftigt, geschweige denn es besonders ernst genommen. Ich lasse das Kopfkino laufen und überlege mir, wie eine Wahrsagerin wohl sein mag. In meinen Gedanken schwirren Bilder von bunten Tüchern, Kreolohrringen und langen Fingernägeln.

Die Adresse, an der ich Sabine treffen werde, führt mich zu einem prächtigen Pariser Altbau. Ich klingele bei „Sabine“, doch niemand antwortet. Ich bin ein bisschen verunsichert und rufe nach einer Weile auf ihrem Handy an: „Ich bin noch in der Metro, bin gleich da!“, entgegnet mir eine gehetzte Frauenstimme. Wenig später hastet sie durch die riesige Eingangstür. Die Mitte-Fünfzigjährige wirkt ein wenig verplant und beginnt gleich freudig loszuplappern. Sie hat lange, dunkelbraune Locken und kleine schwarze Augen, trägt Jeans und einen Kapuzenpullover. Keine Kreolen und keine langen Fingernägel. Wir fahren mit dem Aufzug in den sechsten Stock und sie öffnet die Tür zu ihrem Wahrsage-Kabinett.

Ich bin überrascht: Es ist ein kleiner, schlichter Raum mit weißen Wänden und einem Dachfenster. In der Mitte steht ein kleiner Glastisch mit zwei Sesseln. Keine bunten Tücher, keine mystischen Bilder, kein Kitsch.

In der Wiege der Poesie

Sabine hat armenische Wurzeln und verbrachte ihre Kindheit in den 60er Jahren in Istanbul. „Das war das absolute Glück“, sagt sie. In ihren Erinnerungen duftet die Stadt nach Rosenparfüm. „Istanbul ist die Wiege der Poesie“, sagt sie mit weicher Stimme. Anstatt zur Schule zu gehen, hat sie viel Zeit mit erwachsenen Frauen verbracht. Ihre Großmutter übte das Kaffeesatzlesen als Beruf aus. So spielte das Wahrsagen schon immer eine große Rolle in Sabines Lebenswelt.

„Wenn ich woanders geboren wäre, wäre ich niemals Wahrsagerin geworden“, sagt sie selbst. Die Art, wie sie von Istanbul erzählt, hat etwas Magisches. Ihre Kindheit scheint wie ein Traum, der sich in einem Istanbul abspielt, wo Aberglaube und eine Art von Zauber zu Hause sind. „Ich habe mir die schönen Bilder von damals bewahrt. Alles, was ich in meiner Kindheit dort erlebt habe, hat mich bis heute geprägt. Das Land ist voll von Symbolen. Ich glaube, dass ich bis heute vor allem in dieser Tradition verankert bin. Dadurch kann ich meinen Kunden eine etwas andere Philosophie des Wahrsagens vermitteln, als jemand, der zum Beispiel in Frankreich geboren ist,“ erzählt sie.

Doch ihre Familie suchte bald ein neues Zuhause in Europa. So kam die ungefähr zehnjährige Sabine nach Paris. Probleme an dem neuen Ort hatte sie keine: Sie lernte schnell Französisch, ging zur Schule und fand Freunde. Sie fühlte sich weder hin und her gerissen noch fremd. Traditionen wurden zu Hause noch fortgeführt und Frankreich wurde schnell zu ihrer neuen Heimat. Doch eines war anders, sagt sie:

„Ich hatte das Gefühl, dass wir mehr in der Realität angekommen waren und die Poesie hinter uns gelassen haben.“

So zog sie einen Trumpf aus ihrer Vergangenheit und sagte als Jugendliche ihren Freundinnen die Zukunft voraus. Sie schmunzelt ein bisschen: „Ich hatte viele Freundinnen durch das Wahrsagen. Vielleicht tat ich es anfangs, um mich interessanter zu machen. Aber danach habe ich mich schnell für den Beruf entschieden und nie einen anderen ausgeübt.“

Kartenlegen als Fulltime-Job

Bis heute legt Sabine Karten. Am Anfang habe sie es auch mit Kaffeesatzlesen versucht, doch das sei für die meisten „Folklore“. Ihre Kund*innen bevorzugen das Tarot-Spiel. „Die Leute mögen das Ritual. Sie mögen die Karten und sie lieben es sich welche auszusuchen. Das gibt ihnen ein bisschen Magie,“ erklärt Sabine. Die „Magie“, die ihre Kund*innen in den Karten finden, ist für Sabine allerdings nicht von großer Bedeutung. Für sie sind die Menschen viel interessanter: „Ich habe keine Faszination für das Tarot, sondern für die Menschen. Tarot ist im Grunde nichts. Es ist einfach nur die Verbindung zu ihnen.“

Sie entwirft eigene verspielte Karten-Sets, doch für die Arbeit benutzt sie ein traditionelles Marseiller-Deck. Sie legt die Karten vor mir auf den Tisch, doch ich erkenne keine Motive darauf. Bunte Ränder lassen die Bilder erahnen, doch sie sind längst verblasst. Sabine streicht liebevoll über die Oberfläche: „Mittlerweile kann nur noch ich sie erkennen. Sie sind wunderschön. Ich habe sie noch keine zwanzig Jahre, aber ich benutze sie den ganzen Tag. Dadurch verschwinden mit der Zeit die Bilder. Aber ich kenne sie in- und auswendig.“

Das Wahrsagen beschäftigt Sabine rund um die Uhr: Jeden Tag empfängt sie zwischen zehn und zwanzig Uhr Kund*innen. Werbung für das Kartenlegen macht sie keine. Alles läuft über Mund-zu-Mund-Propaganda oder wie es so schön auf Französisch heißt: De bouche à l’oreille (von Mund zu Ohr).

Ein Blick in die Zukunft: Geld statt Liebe

Ich frage sie vorsichtig, wer denn zu ihr kommt. Wer braucht heutzutage den Rat einer Wahrsagerin? Sie lächelt und sagt: „Jeder ist vom Wahrsagen fasziniert und jeder ist neugierig auf seine Zukunft.“ Das scheint zu stimmen. Die unterschiedlichsten Menschen zwischen 17 und 88 Jahren kommen zu ihr. „Das geht von der Concierge, der Prostituierten, dem Politiker über Künstler, Modeschöpfer, Anwälte, Zahnärzte,“ sagt sie.

„Der Beruf ist wie ein Passierschein in alle Milieus. Das ist das Besondere daran. Du kannst dich mit Menschen wiederfinden, die ein absolut anderes Leben führen.“

So unterschiedlich ihre Kund*innen auch sein mögen, sie alle verbindet offenbar eines: Sie wollen vor allem beruflich erfolgreich sein. Die Karten sollen Antworten und Sicherheit geben. Geht der Businessplan auf? Werde ich mit meinem Unternehmen als Gründer Erfolg haben? Oder als Künstler? Was denn mit der Liebe sei, frage ich daraufhin Sabine. „Heute träumt man nicht mehr vom Traumprinzen. Das hat sich im Vergleich zu früher verändert“, sagt sie. „Themen die immer wieder kommen sind vor allem Geld und Erfolg. Sie wollen wissen, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Dabei müssen meine Vorhersagen so präzise wie möglich sein.“


Ich bleibe skeptisch. Wie kann das funktionieren? Die Regeln des Kartenlegens seien einfach zu lernen, versichert sie mir. Doch was am Ende zähle, sei die richtige Interpretation. Denn natürlich sage die gleiche Karte nicht dasselbe über jeden Menschen aus.
„Ich glaube es klingt ein bisschen anmaßend zu sagen, dass ich eine Gabe hätte“, sagt Sabine. „Man braucht sehr viel Intuition, Verständnis und Gespür für den Anderen. Mit der Erfahrung erlangt man mit der Zeit eine gewisse Tiefe und Kompetenz für dieses Metier.“

Ein Dachkämmerchen in Paris

Das Leben einer Wahrsagerin ist intensiv. Sabine taucht nicht nur in unterschiedliche Lebenswelten ein, sondern bekommt auch die versteckten Seiten der Menschen zu sehen. Die Seiten, die sie niemals in der Gesellschaft offenbaren, so meint sie. Sie blickt hinter die Fassade, sieht die Zerbrechlichkeit, die Schwäche. Es sind sensible Momente: „In einer solchen Situation kommt ihr richtiges Ich zum Vorschein. Das ist ein ehrlicher Moment und den darf man nicht ausnutzen“, sagt sie.

Wir sitzen mehr als eine Stunde in Sabines Pariser Dachkämmerchen und ich lausche gespannt ihren Erzählungen. Am Ende lasse ich mir zwar nicht die Karten von ihr legen, aber sie gibt mir ein paar ihrer eigenen Karten-Decks mit und lächelt mir zum Abschied augenzwinkernd zu: „Probier’s einfach aus!“

Nächster Artikel

Kunst & Design

Lidstrich und Pailletten

Olgaç Bozalp fotografierte männliche Bauchtänzer in Istanbul

    Lust auf Lecker Newsletter?