Der gestohlene Mantel

Istanbul im Schnee - Ein Gedicht

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Der Bosporus-, Metro-, Straßen-, und Çay-Verkehr zieht Tag ein Tag aus seine Wege durch die laute Stadt. Hände reichen Dinge an andere Hände weiter, pausenloser Zigarettenkonsum und eine Ohnmacht in der Luft, die trotz ihrer Stille alles übertönt. So ungefähr fühlte sich Istanbul im Winter 2016 an, als alle wussten was passiert, aber nur wenige sich trauten es auszusprechen. „Hayir“ brach die Stille, aber war es auch ein Weckruf?

Du stehst auf
Du gehst raus
Es ist kalt
Tag für Tag.

Du stehst auf
Du gehst raus
Du ziehst dir deinen Mantel über.
Weil du stundenlang gelaufen bist,
brauchst du eine Pause.
Du setzt dich hin.

Und während du da so sitzt, füllt es sich um dich herum.
Und die Leute – Sie haben keinen Mantel an.
Du guckst an dir herunter.
Wo ist dein Mantel?
Jemand hat deinen Mantel gestohlen, dich beraubt.
Er ist weg, dir ist kalt.

Du beschließt wieder los zu ziehen.
Deine Füße tragen dich, doch dann brauchen sie eine Pause.
Und während du da so sitzt, du weißt nicht mehr wie lang,
füllt es sich nicht mehr um dich herum.
Deine Leute- Sie sind weg.
Eingesperrt.
Die klaren Strukturen der Straßen verschwinden, die Sicht verschwommen, Farben, Lichter, Alles-
mündet in einen übermächtigen Strahl von Ohnmacht.
Deine Beine verlieren an Kraft, deine Knie brechen.
Du fällst auf den nassen Boden.
Dein Gesicht klebt auf dem Asphalt.

Es ist so eisig kalt.
Steh doch auf!
Du musst irgendwo hin!

Du findest deinen Mantel nicht mehr. Egal.
Die Taubenscheiße klebt an deinen Händen, deine Knie bluten.
Du stehst auf.
Endlich, läufst du los – zaghaft zunächst.
Im Takt deines Atems tanzen die Lichter der Welt vor deinen Augen.
Deine Augen,
sie suchen den Mantel, den du so sehr vermisst.
Deine Ohren,
sie lauschen nach den vertrauten Stimmen deiner Leute.

Du atmest ein, du atmest aus.
Du spürst den Atem der Anderen.
Sie laufen neben dir
– ohne Mantel.
Der Blick gesenkt, die Ohren taub.

Man hat euch den Mantel gestohlen,
aber euch ist warm.
Auch wenn die Taubenscheiße an euren müden Körpern klebt und eure Knie bluten,
Ihr steht auf.

Text und Fotos: Edona Ademi

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