Ein Schimmer der Hoffnung

Der Marsch für Gerechtigkeit

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Als Kemal Kılıçdaroğlu, Leiter der Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei), vor knapp vier Wochen ankündigte, 450 Kilometer von Ankara bis Istanbul zu Fuß zurücklegen zu wollen, reagierten viele mit Skepsis und Spott. Viele zweifelten an der Durchführbarkeit des Marsches und behaupteten, dass es niemanden interessieren würde und viel zu spät sei. Im Augenschein des Erfolges des „Adalet Yürüyüşü“ (zu Dt.: Marsch für Gerechtigkeit) scheinen diese Aussagen jedoch eher banal. Denn der Marsch, der vor einigen Tagen im Stadteil Maltepe in Istanbul zu Ende ging, mobilisierte zum ersten Mal seit den Gezi-Protesten tausende Oppositionelle im Kampf gegen den zunehmenden autoritären Regierungsstil der AKP unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Die neue Türkei im nicht endenden Ausnahmezustand

Adalet – dahinter steht ein Aufbegehren nach politischer und sozialer Gerechtigkeit und der Wunsch nach der Widerherstellung von Rechtstaatlichkeit,  Meinungsfreiheit und Demokratie.  Denn die Entgleisung der Türkei vom demokratischen Pfad wurde mit dem Putschversuch des 15. Juli 2016 und dem Verfassungsreferendum diesen Jahres in bisher beispielloser Geschwindigkeit beschleunigt. Im Rahmen des Ausnahmezustands wurden tausende Oppositionelle – darunter Lehrer, Akademiker und Journalisten – ohne Beweismittel und ohne Anspruch auf einen fairen Prozess, hinter Gitter gebracht. Bis heute dauert dieser Prozess unter dem Vorwand einer politischen Säuberung des Landes an und macht Regierungskritiker mundtot. Der Ausnahmezustand wurde seither immer wieder verlängert und ein Ende ist nicht in Sicht.

Dass es so nicht mehr weitergehen kann, hatte Kılıçdaroğlu immer wieder betont: die Ausweitung der präsidentiellen Rechte durch das Verfassungsreferendum, die Ausschaltung der politischen Opposition und die zunehmende Umgestaltung des Staates durch politische Säuberungen kritisierte er immer wieder vehement. Im Fokus dabei stand immer die Wiederherstellung der Demokratie.

Der Erosion der Demokratie entgegenwirken

Als Enis Berberoğlu, ein Abgeordneter der CHP, wegen Geheimnisverrats zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, war für Kılıçdaroğlu das Fass übergelaufen. Berberoğlu  wurde beschuldigt, der regierungskritischen Zeitung Cumhurriyet geheime Aufnahmen von türkischen Waffenlieferungen an Islamisten zugeführt zu haben. In Reaktion auf dieses Urteil, aber auch um auf alle anderen Missstände, die eine Erosion der Demokratie in der Türkei bedeuten, aufmerksam zu machen, kündigte der CHP-Vorsitzende also einen Marsch für Gerechtigkeit an. So forderte er Gerechtigkeit für Kinder, Frauen, Minderheiten und alle Menschen, die wegen ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer Lebensweise Ungerechtigkeit durch das AKP-Regime erfuhren. In einem Artikel für die F.A.Z. schreibt er kurz vor Beendigung des Marsches:

 „Ben tüm insanlık için, gelecek kuşaklar için yürüyorum.“ – Kemal Kılıçdaroğlu

z.Dt.: Ich marschiere für die ganze Menschheit, für die kommenden Generationen.

Seite an Seite

Der Politiker legte die insgesamt 450 Kilometer für Gerechtigkeit mit Unterstützung vieler Begeisterter zurück. Am Anfang trauten viele dem 68-Jährigen dieses körperlich herausfordernde Vorhaben nicht zu, dennoch marschierte Kılıçdaroğlu täglich 20 Kilometer. Zehntausende von Menschen stoßen dem Adalet-Marsch unterwegs zu, womit der Protest auch medial an Aufmerksamkeit gewann. Mit weißen Mützen zum Schutz vor der glühenden Sonne gewappnet, gingen Menschen dreieinhalb Wochen lang Seite an Seite mit Kılıçdaroğlu, ohne parteiliche Zugehörigkeit zu zeigen.

Mit jedem Schritt in Richtung Istanbul stieg neben der Zahl der Marschierenden auch die Aufregung und auch die Sorge darüber, was am Ende des Marsches passieren würde. Staatschef Erdoğan bezeichnete die friedlichen Demonstranten als Terroristen und forderte wiederholt den Abbruch des Marsches. Oftmals wurden die Wandernden Ziel von Provokation und es kam zu kleinen Zwischenfällen. Der Marsch zeigte jedoch, dass friedlicher Protest und das Streben nach Veränderung große Symbolkraft besitzen. Somit wurde der Adalet-Marsch zum Symbol für Frieden, für Gemeinschaft, Ausdauer, Geduld und nicht zuletzt ein gerechtes Miteinander.

Ein Zeichen des Zusammenhaltes und Widerstandes

Der Marsch endete auf seinem Höhepunkt bei einer Massenkundgebung in Istanbul-Maltepe, bei der nach Angaben des Senders CNN-Türk über 1,6 Millionen Menschen zusammenkamen. Vor dieser enormen Menschenmenge forderte Kılıçdaroğlu ein Ende des Ausnahmezustands und anti-demokratischer Praktiken. Somit geht der „Adalet“-Marsch als eines der größten Massenproteste seit den Gezi-Protesten 2013 in die Geschichte der Türkei ein und symbolisiert für viele ein Revival der pro-demokratischen Kräfte in der Türkei.

Das Wort „Adalet“, das seit vielen Jahren hinter der Abkürzung der AKP verschwand, hat schon jetzt durch den Marsch an Bedeutsamkeit gewonnen. Inwiefern dieser Symbolakt politische Entscheidungen und die anti-demokratische Einstellung der AKP-Regierung beeinflussen wird, bleibt noch abzuwarten. Der Marsch jedoch wird vielen als Schimmer der Hoffnung und als ein Zeichen des menschlichen Zusammenhaltes und Widerstandes in der Türkei in Erinnerung bleiben.

Fotos: Shutterstock.com

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