Ein außergewöhnlicher Interview-Ort, ein außergewöhnliches Interview, ein außergewöhnlicher Mann. Die Rede ist vom Film- und Theaterregisseur Neco Çelik. Wir trafen ihn in der Kreuzberger Markthalle Neun und sprachen mit ihm über seine Vergangenheit und über die Zukunft.
Wieso treffen wir uns genau hier?
Diese Markthalle gehört zu meinem Leben. Um die Markthalle herum bin ich aufgewachsen und hier gibt es sehr viele Erinnerungen, die mich an meine Kindheit und Jugend binden. Da vorne der Aldi beispielsweise hat seit über 40 Jahren kein Aldi-Schild. Ich weiß noch ganz genau, wie türkische Großfamilien dort früher palettenweise ihre Lebensmittel gekauft haben. Und was sehen wir nun? So gut wie keine Türken mehr. Die Großfamilien lösen sich mittlerweile auf. Ich bin mit meinen fünf Kindern eine Ausnahme. Nun ist die Markthalle voll mit ernährungsbewussten Menschen. Ich lege ebenfalls großen Wert auf eine gesunde Ernährung. Wäre ich nicht beim Theater gelandet, wäre ich gern Koch geworden – ein Ernährungskünstler.
Ich erinnere mich an deinen Kurzfilm »Schweinemilch«. Darin geht es auch um die Ernährung der Gastarbeiter.
Stimmt! Wenn es um den Diskurs über die Probleme der Gastarbeiter geht, dann ist Ernährung immer auch ein Thema. Als die Gastarbeiter hier nach Deutschland kamen, hatten sie nicht nur mit der Sprachproblematik zu kämpfen, sie stießen auch an viele Ernährungs-Barrieren. Was konnten, was durften sie denn nun essen? An den Produkten wie Brot und Eier konnten sie sich orientieren. Doch durch verwirrende Etikette kamen Zweifel auf. Wie in dem Kurzfilm waren sich viele Gastarbeiter nicht sicher, woher bestimmte Lebensmittel kommen. Weil auf einer Milchflasche zum Beispiel Schweine abgebildet waren, glaubten sie, die Deutschen melken Schweine. Die Reihe an Missverständnissen nahm kein Ende.
Du hast bei der Premiere zu Schweinemilch gesagt, dass du bereits an verschiedenen Orten gelebt hast, aber dein Weg dich immer wieder nach Kreuzberg zurück gebracht hat.
Ich neige immer wieder dazu weggehen zu wollen. Liegt in meiner DNA. Aber inzwischen hat sich zwischen mir und meinem Viertel eine Art »Amour fou« über die Jahre entwickelt. Letztendlich hat hier alles angefangen, das Filmemachen und später im Theater das Inszenieren.
Deine bekannteste Inszenierung »Schwarze Jungfrauen« war erst im Hebbel am Ufer, dann im Gorki sehr erfolgreich. In diesem Stück geht es um gesamtgesellschaftliche Tabu-Themen. Wie reagierte die deutsche und die türkische Community darauf?
Die theater-desinteressierte, türkische Community hat überhaupt nicht reagiert, weil sie von dem Stück überhaupt nichts mitbekommen hat. Ausnahmen gibt es sicher, aber in der Regel ist die türkische Community in Deutschland nicht besonders theateraffin. Die Deutschen waren vom Stück mittelschwer geschockt. Es hat ihre beschränkte Denkweise auf die Deutsch-Türkische-Islam-Welt entlarvt. Was wir mit dem Stück auch ja beabsichtigt hatten. Das Stück lief ganze neun Jahre. Im Sommer 2015 wurde die letzte Vorstellung im Gorki gezeigt. Leider! Mit »Schwarze Jungfrauen« haben wir einen radikalen, postmodernen Widerstand inszeniert. Das war der Beginn des postmigrantischen Theaters. Im Grunde ist das Stück »Schwarze Jungfrauen« eine Art Zäsur in der deutschen Theatergeschichte.
Warum geht die türkische Community nicht ins Theater?
Die erste Generation der Türken wollte nur, dass wir lernen und studieren. Für Kunst und Kultur war da kein Platz. Für Theater gibt es leider immer noch keine Affinität. Doch wenn ein türkischer Stand-up-Comedian oder ein türkischer Film in die Kinos kommt, füllen sich die Säle bis auf die letzten Plätze. Ihre Themen scheinen mitreißend zu sein. Ich denke, die jungen Menschen sollten sich mehr für das Theater interessieren, weil wir hier in Deutschland das beste Theater der Welt haben.
Was für eine Rolle spielen die »36 Boys« in deinem Leben? Soweit ich weiß, bist du eher genervt, wenn man dich nach deiner Gang-Vergangenheit anspricht.
Das stimmt, ich bin genervt. Ich bin mittlerweile 43 Jahre alt und seit 25 Jahren werde ich darauf angesprochen. Ja, ich war einer der Gründer in meinen Teenie-Zeiten. Aber wir waren die »36ers« und nicht die »36 Boys«. Damals herrschte eine ganz andere und harte Zeit. Unsere Eltern kamen in den 60er und 70er Jahren als Gastarbeiter in das kaputte Berlin. Sie waren mit ihren Riesenfamilien am Rande der Gesellschaft, direkt an der Mauer angesiedelt. Eine Siedlungspolitik, die immense Folgen auf die jungen Menschen hatte. In der Stadt hatten »çetes« (türk.: Gangs, Banden), wie die »Şimşekler« oder »Vulkanlar« die Oberhand. Das waren keine Gangs, wie man sie aus den amerikanischen Filmen kennt. Sie waren krasser. Die Mitglieder schoben auf den Kreuzberger Straßen Aufsichtsschichten, rekrutierten weitere Kids und verdienten ihr Geld zum Teil auf illegalen Wegen.
Später fand eine Amerikanisierung statt. Die jüngeren Mitglieder der »36ers«, die sich »36 Boys« nannten, haben dann ein Label daraus gemacht. Sie haben das »Bad Boy-Image« geschickt übernommen und sich damit als Geschäftsmänner etabliert. Die »36 Boys« wurden zu einer angesagten Marke mit ihren T-Shirts, Mützen und Hosen. Sie bezeichnen sich selber als »Mythos und Kult«. Wir, die »36ers«, waren im Grunde die unsichtbaren Leute.
Aber das ist alles so lange her. Und in den Fantasien der Leute hat sich etwas ganz anderes entwickelt. Damit habe ich nicht viel zu tun. Das harte Leben begann danach. Als ich meine Schule nachholen, Geld verdienen, den Mist, den ich gebaut hatte, gerade biegen musste und früh Vater wurde.
Eine Zeitlang lief im Fernsehen die von dir geschriebene Serie »Manyak Dükkan«, die im Zentrum von Kreuzberg gedreht wurde. Gibt es neben deinen anderen Tätigkeiten neue Pläne für eine Serie?
Mit »Manyak Dükkan« (türk. Verrückter Kiosk) habe ich damals etwas Neues ausprobiert, bin dann aber weiter gezogen in Richtung Theater und Film. Nun habe ich eine neue Serie geschrieben. Es geht dieses Mal um eine reiche, postmigrantische Familie, die ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft mit all ihren Problemen aufzeigt. Es muss ja nicht immer wieder um Gastarbeiter gehen. Jetzt ist es an der Zeit, die postmigrantischen Projekte im Fernsehen und Kino, also in den Massenmedien zu sehen.
Ist das Thema Gastarbeiter also »out«?
Nein, ich habe gemerkt, dass ein Comeback des Gastarbeiter Ritus im Gange ist. Die neue Generation will sich erinnern und Respekt gegenüber den ersten Ur-Türken in Deutschland zeigen. Sie haben Zugang zur türkischen Sprache und fahren oft in die Türkei. Denn alles was unsere Eltern oder Großeltern gemacht haben, kann nicht falsch gewesen sein. Es gibt mittlerweile nicht nur die türkischen Schichtarbeiter. Wir haben uns in dieser Gesellschaft etabliert. Ich bin Regisseur und du bist Lehrerin geworden. Manch andere arbeiten als Journalisten, sind entweder in der Wissenschaft oder Politik aktiv. Wir sollten dankbar dafür sein, dass wir viel von unseren Großeltern oder Eltern gelernt haben und das Wissen in unser Leben und in die Gesellschaft einbringen können.
Kannst du dich zum Abschluss in drei Worten beschreiben?
ICH … BIN … KOMPLEX