Es ruckelt hier etwas, der Regionalzug fährt nicht gleichmäßig. Das ist aber nicht der Grund, weshalb sie ihre Tasche festhält und ihre groben Finger in das weiche, graue Kunstleder der Handtasche gräbt. Sie hat Angst, dass man ihr etwas wegnehmen könnte. Dass sie hier in diesem Land gar nichts haben darf. Diese Tasche hat nur 14,95 Euro gekostet an einem der Stände vor dem real-Markt. Aber es ist ihre. Deshalb klammert sie sich an das knautschige Kunstleder auf ihrem Schoß. Ihr langer schwarzer Rock berührt fast den Zugboden.
Noch zwei Stationen bis Düsseldorf.
Ihr gegenüber sitzt eine Frau in ihrem Alter, Ende 50, mit lichtem, blonden Haar, hochgesteckt.
An vielen Stellen ist es schon grau geworden. Diese blonde Frau ihr gegenüber schaut sie kurz ängstlich und leicht angewidert an. Genau 5,3 Sekunden treffen sich die Blicke der beiden. Dann schaut die hellhaarige Frau aus dem Fenster.
Die Ignoranz hängt am seidenen Faden
Sie trägt künstliche Perlen an den Ohren und ihre Fingernägel sind perlmuttfarben lackiert. Auch auf ihrem Schoß liegt eine Handtasche, platt wie eine Flunder, brachliegend wie ihre gescheiterten Lebensträume. Sie krallt ihre knochigen Finger in die Echtleder-Tasche. Auch sie hat Angst, dass man ihr etwas wegnehmen könnte. Nein, falsch. Sie befürchtet, dass die da, die dunkle Frau gegenüber ihr etwas stehlen könnte. Und wenn es nur diese Handtasche von Picard ist.
Der Zug ist brechend voll und so müssen beide Damen kerzengerade auf ihren Sitzen bleiben, um sich nicht zu berühren, die Hände in die Taschen gekrallt. Beide schauen konsequent aus dem Fenster. Sie sitzen sich gegenüber und wollen sich einfach nicht sehen. Aber diese sture Ignoranz unserer beiden Reisenden hängt am seidenen Faden, denn: Nur ein Ruckeln des Zuges und ihre Knie berühren sich. Nur ein rempelnder Fahrgast und sie müssten sich ansehen.
Ein reservierter Platz
Aber es ruckelt gerade nicht und keiner rempelt. Und so sitzen sie hier, wie Tag und Nacht und verstehen sich ganz ohne Worte kein bisschen. Dabei haben sie so viel gemeinsam: Beide waren einmal voller Elan und Esprit, junge Mädchen, die von Erfolg im Beruf und einer intakten Familie träumten. Ein schönes Haus, ein ruhiges Leben. Heute sind sie beide Skizzen dieses ungefähren Lebens, das sie sich erträumten, lange bevor sie in diesem Regionalzug saßen. Beide sind alleinerziehend und lieben ihre Söhne. Und beide lieben dieses Land, aus ihren Gründen. Wollen hier nur genug Platz haben. Wenn es geht, einen Sitzplatz mit viel Beinfreiheit. Einen, der nur für sie reserviert ist.
Noch eine Station bis Düsseldorf.
Angekommen
Es langweilt sie jetzt, nur aus dem Fenster zu schauen, wie die blonde Frau vor ihr. Sie greift in ihre Kunstleder-Tasche und fischt darin rum. Wo hatte sie denn jetzt – ach immer das gleiche mit dieser Tasche – nein, nicht die Olivenöl-Handcreme, auch nicht die Falim-Kaugummis. Ah, da ist sie: die „Rezepte Pur“-Zeitschrift mit 35 saisonalen Kürbis-Rezepten. Sie blättert durch die dünnen Seiten, betrachtet die bunten Bilder und streicht mit dem unlackierten Finger die einzelnen Mengenangaben der Kochrezepte entlang.
Die blonde Frau schaut sie ungläubig an. Dieses „Rezepte Pur“-Heft liest sie auch immer am liebsten beim Friseur. Sie lockert allmählich ihren Griff um die Echtleder-Tasche. Und linst dann interessiert in das Heft ihrer Sitznachbarin: So ein Kürbis-Kartoffel-Auflauf wäre ja auch mal wieder was für Zuhause.
Der Zug kommt langsam und ruckelnd zum Halten. Ihre Knie berühren sich, beide schauen sich kurz an. Düsseldorf, Endstation. Angekommen.
Illustration: Seda Demiriz