Was haben ein illegaler Straßenverkäufer, ein wohlhabendes Istanbuler Ehepaar und ein deutscher Sparkassenangestellter gemeinsam? In Aslı Özges Filmen ist es das Gefühl der Enge, das eine Konstante im Leben all dieser Figuren darstellt. Ihr jüngster Film Auf Einmal, der im letzten Jahr seine Weltpremiere auf der Berlinale feierte, wird dieses Jahr erneut auf der Berlinale im Rahmen der LOLA-Vorauswahl gezeigt. Für den Film hat die Regisseurin an ihre bewährte Zusammenarbeit mit dem Kameramann Emre Erkmen angeknüpft. Beide sind im Jahr 2000 aus Istanbul nach Berlin gezogen und haben seitdem drei Kinofilme zusammen gedreht. Im Interview erzählen uns Aslı und Emre, welche Geschichten und Bilder sie inspiriert haben, mit welcher visuellen Dramaturgie sie arbeiten und warum den Schauspielern nicht das komplette Drehbuch verraten wird.
Woher kennt ihr euch und seit wann arbeitet ihr zusammen?
Emre: Wir kommen beide aus Istanbul und haben uns dort kennengelernt. Vor dem Kamera-Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) habe ich genauso wie Aslı Film in Istanbul studiert. Damals war ich der Kameramann für ihre Kurzfilme. Seitdem arbeiten wir zusammen und wohnen seit 2000 auch beide in Berlin. Neben den Filmen mit Aslı arbeite ich natürlich auch für andere Projekte mit vielen Regisseuren zusammen, nicht nur für Kinofilme, sondern auch für Fernsehfilme in Deutschland und Österreich.
Du hast zum Beispiel mit dem Regisseur John Malkovich zusammengearbeitet.
Emre: Ja, das war ein Imagefilm, bei dem Malkovich Regie führte. Ich habe ihn als einen sehr offenen Menschen kennengelernt, was wohl auch ein Grund dafür ist, dass der Dreh sehr angenehm war. Es ist eine sehr schöne Erinnerung für mich. Seitdem sind wir immer noch in Kontakt.
Aslı, dein erster Kinofilm Men of the Bridge (Köprüdekiler) von 2009 erzählt von drei Männern, die auch im echten Leben auf der Bosporus-Brücke arbeiten; ein Blumenverkäufer, ein Dolmuş-Fahrer und ein Verkehrspolizist. Wie habt ihr die Protagonisten gefunden?
Aslı: Wir haben unsere Protagonisten auf der Bosporus-Brücke gefunden. Den Blumenverkäufer Fikret fanden wir als Erscheinung wahnsinnig interessant. Mit seinen langen Haaren sah er aus wie ein Don Juan, der auf seine Geliebte wartet. Dabei hat er nur Blumen verkauft. Auf den Dolmuşfahrer sind wir zufällig aufmerksam geworden, weil er eine Hertha-BSC-Flagge an seinem Wagen hatte – ein Geschenk von einem Bekannten. Der Verkehrspolizist wird von seinem Bruder dargestellt, weil es in der Türkei verboten ist, das Gesicht von Polizisten zu zeigen. Wir haben lange mit ihm geübt, wie er sich als Polizist verhalten soll.
Der Film vermischt also dokumentarische und fiktionale Anteile?
Aslı: Wirklich dokumentarisch ist der Film eigentlich nicht. Es gab ein Drehbuch, das zum Teil auf den echten Erlebnissen und Gedanken der Protagonisten basierte. Es hat mich jedoch nicht interessiert, einfach nur die realen Figuren zu porträtieren. Ich wollte einen Film über die Zukunft der Türkei machen, deswegen habe ich ein Drehbuch geschrieben. Allerdings habe ich den Film zum Großteil an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern gedreht.
Dein zweiter Film, Lifelong (Hayatboyu) von 2013 begibt sich in ein ganz anderes soziales Milieu und Themenfeld: Es geht um die Entfremdung eines Ehepaars im Istanbuler Nobelstadtteil Nişantaşı.
Aslı: Genau, ich wollte eine andere Schicht der Gesellschaft zeigen. Die Charaktere in Lifelong sind zwar von den äußeren Umständen her viel freier als die Figuren in Men On the Bridge, weil sie über Geld und Bildung verfügen, doch trotzdem herrscht in ihren Köpfen und Beziehungen ein Gefühl der Enge, von dem sie sich nicht befreien können. Für mich zeichnen beide Filme zusammen ein Bild von Istanbul und zeigen, wie sehr sich die Schicksale von Menschen in dieser Stadt ähneln – egal, zu welcher Schicht sie gehören.
Emre, wie hast du dieses Konzept visuell umgesetzt?
Emre: Zunächst einmal spielte das Haus, in dem das Paar lebt, eine wichtige Rolle, da es ihren Lebensstil und sozialen Status illustrieren sollte. Wir haben ein Haus gewählt mit einer Architektur, die es unseren Charakteren erlaubte, sich aus dem Weg zu gehen und so etwas wie ein Versteckspiel miteinander zu spielen. Mit seiner schmalen Struktur und seinen gläsernen Raumteilern hat das Haus sie in Kästchen gesetzt und voneinander getrennt. So konnten wir ihre Entfremdung zeigen. Außerdem hatten wir ein strenges Farbkonzept, das sich auf Blau und Grau fokussiere: Blau für die Kälte zwischen den Figuren, Grau für den Beton und die Architektur im Film.
Der Film Auf Einmal aus dem letzten Jahr beginnt mit einem mysteriösen Todesfall, durch den das Leben des Protagonisten aus den Fugen gerät. Woher kam die Idee für die Geschichte?
Aslı: Die Geschichte beruht auf einem tatsächlichen Vorfall in der Türkei. Eine Frau starb plötzlich in der Wohnung eines Mannes, den sie an diesem Abend kennengelernt hatte. Beide Beteiligte waren prominent. Die Sache wurde in den Medien ungeheuer moralisiert, die Frau war verheiratet und hatte auch ein Kind – die Frage nach einem One-Night-Stand hing in der Luft. Ein paar Journalisten hatten geschrieben, dass sie es deshalb verdient habe zu sterben. Das hatte mich wütend gemacht.
Allerdings spielt der Film diesmal nicht in Istanbul, sondern in einer Kleinstadt im westfälischen Sauerland. Warum?
Aslı: Wenn ich den Film in der Türkei gemacht hätte, hätte der Fokus vor allem auf der moralischen Frage gelegen. Ich wollte aber auch von Schuld und vom Druck der Gesellschaft erzählen. Außerdem war es mir wichtig, mich von den realen Ereignissen zu lösen. Auch deshalb habe ich Deutschland als Schauplatz gewählt.
Emre: Die Kleinstadt Altena war auch visuell ein ideales Setting für den Film. Dadurch, dass der Ort von Bergen eingeschlossen ist, wird ein Gefühl der Enge vermittelt. In die Ferne, sozusagen in seine „Zukunft“, kann der Protagonist nicht sehen. Außerdem haben wir in der Zeit des Goldenen Herbstes gedreht, wodurch ein Gefühl von Melancholie und Verlust transportiert wurde.
Der Protagonist Karsten ist in die sozialen Strukturen dieser Kleinstadt fest eingebunden. Im Film verliert er genau deshalb seinen Ruf, weil er darauf bedacht ist, ihn nicht zu verlieren. Ist das auch eine Kritik an der Besessenheit, immer ein perfektes Bild nach außen abgeben zu wollen?
Aslı: Mich interessiert der Druck, den die Gesellschaft auf das Individuum ausübt: Wir müssen immer fehlerfrei sein, um unseren Status zu schützen. Den neuesten Trends zufolge muss bei uns auch nach außen hin immer alles perfekt erscheinen. Die Frage, warum Karsten nicht sofort die Ambulanz ruft, hängt mit diesem gesellschaftlichen Druck zusammen. Die Entscheidung, ob er deshalb schuldig ist oder nicht, wird bewusst dem Zuschauer überlassen. Manche können sich mit Karsten identifizieren, andere hingegen verurteilen ihn.
Du verrätst deinen Schauspielern nicht das komplette Drehbuch, sondern nur die Informationen über ihren eigenen Charakter. Was ist das Konzept dahinter?
Aslı: Natürlich gebe ich das Drehbuch heraus, aber nicht das gesamte. Jeder Schauspieler bekommt ein anderes Buch mit selektiven Informationen. Dafür arbeiten wir aber sehr lange gemeinsam an den Charakteren, die sie darstellen werden. Ich suche immer Schauspieler, die bereit sind, mit dieser Methode zu arbeiten. Bei den Dreharbeiten zu Auf Einmal hatte außer Sebastian Hülk, der die Hauptrolle spielt, niemand die erste Szene gelesen. Daher wusste keiner der anderen, was genau passiert war. Wenn Karstens Freundin Laura (Julia Jentsch) ihn fragt, ob er mit der Frau geschlafen habe, kann man in ihren Augen sehen, dass sie die Antwort wirklich nicht weiß. Hinter diesem Realitätsgefühl bin ich her.
Was beeinflusst euch ganz allgemein bei der Ideenentwicklung?
Emre: Vieles. Zu meinen wichtigsten Einflüssen gehören Fotografie, zeitgenössische Kunst und Musik. Natürlich schaue ich auch viele Filme. All das bietet eine Art Nährboden für die eigene Arbeit. Um die Logik eines Films zu entwickeln, verbindet man dann die Referenzen, die man im Kopf hat, und schafft eine Harmonie zwischen ihnen.
Aslı: Ich kann wirklich nicht sagen, woher die Ideen kommen. Es gibt da keinen Mechanismus, keine Mathematik. Es ist auch nicht so, dass ich mich explizit mit einem bestimmten Thema beschäftigen will. Oft gibt es einfach ein Bild, einen Moment oder einen Artikel, der mich fesselt und so die Idee zu einem Film auslöst.