Musik ohne Normen

Zu Gast bei Korhan Erel

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Der Musiker und Sound Designer Korhan Erel liebt den Mikrokosmos von Klängen. Als Improvisationskünstler hat er sich schon immer für experimentelle Musik interessiert. »Wenn sich eine Routine einstellt, gehe ich verloren«, sagt er. Bereits als Kind verweigerte er den Klavierunterricht und lauschte lieber der Klospülung im Badezimmer. Später machte er den Computer zu seinem Hauptinstrument. Als Mitglied der Gruppe Islak Köpek war er Mitbegründer der freien Improvisationsszene in der Türkei. Seit 2014 lebt er in Berlin. Wir haben Korhan in seinem Neuköllner Studio besucht und mit ihm über seinen ersten Computer, Nachtigallkonzerte und klischeefreie Musik gesprochen.

Wie würdest du ganz allgemein deine Musik beschreiben?

Ich bin experimenteller Musiker und arbeite mit Elektronik, also mit Computern, Synthesizern, Effektgeräten usw. Damit spiele ich atonale, improvisierte Musik sowie strukturierte Stücke, die ich selbst komponiere und interpretiere – sowohl mit anderen Musikern als auch solo. In den letzten Jahren habe ich auch oft mit Jazz-Gruppen zusammengespielt.

Meine eigene Musik basiert in der Regel auf Samples. Das sind Aufnahmen, die ich zu Hause oder irgendwo in der Stadt oder Natur gemacht habe und die ich auf verschiedene Arten abspiele. Ich liebe die Mikrowelten des Klangs in diesen Aufnahmen. Wenn ich zum Beispiel einen kurzen Ausschnitt auswähle, ihn abspiele und loope, dann bekomme ich ein ganz anderes Ergebnis als in der Original-Aufnahme. So entstehen völlig neue Klangwelten.

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Viele Improvisationsmusiker haben einen Hintergrund in Free Jazz, Neuer Musik oder auch experimentellem Rock. Wie sieht das bei dir aus?

Akademisch gesehen habe ich gar keinen Hintergrund in Musik. Ich habe Wirtschaft studiert und sogar eine Zeit lang als Berater gearbeitet. Aber ich habe mich schon immer für Klänge interessiert. Als Baby wollte ich ständig, dass meine Mutter mich ins Badezimmer bringt, damit ich dort die Klospülung anhören konnte – immer und immer wieder. Wenn das Geräusch aufgehört hat, habe ich sofort angefangen zu weinen.

Hast du auch ein „klassisches“ Instrument gelernt?

Ich habe versucht, Klavier zu lernen, aber als ich vier Jahre alt war, habe ich meinen Klavierlehrer ins Gesicht geschlagen. Ich weiß nicht mehr genau warum; wahrscheinlich war ich gelangweilt oder wütend. Damit war der Unterricht jedenfalls vorbei. Als ich auf dem Gymnasium war, habe ich auch für zwei oder drei Monate versucht, am Konservatorium Posaune zu lernen, aber ich hatte einfach nie die nötige Disziplin dazu. Wenn sich eine Routine einstellt, gehe ich verloren. Das war im Arbeitsleben genauso.

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Wie wurde der Computer zu deinem Hauptinstrument?

Meine Eltern haben mir 1985 meinen ersten Computer gekauft: einen Commodore 64. In den ersten Jahren habe ich damit nur Computerspiele gespielt, aber das Gerät hatte einen sehr guten Soundchip und bei diesen Spielen lief immer wahnsinnig gute Musik. So kam es, dass ich irgendwann lernen wollte, selbst damit Klänge zu kreieren. Später habe ich mir dann einen fortschrittlicheren Computer, einen Synthesizer und ein Mischpult gekauft.

Mit Islak Köpek hast du die erste Free-Improvisation-Band in der Türkei mitbegründet. Wie kam es dazu?

Ein befreundeter Musiker, Şevket Akıncı, hatte mich mit der improvisierten Musik bekannt gemacht. Unser erstes Free-Impro-Konzert haben Şevket und ich 2004 zusammen mit dem Wiener Musiker Karlheinz Essl gespielt, der damals Istanbul besucht hat. Das hat so großen Spaß gemacht, dass wir damit weitermachen wollten. Wir waren nicht die ersten Improvisationsmusiker in der Türkei, und auch nicht die besten, aber wir waren die erste Gruppe. Wir sind sehr oft aufgetreten und haben häufig andere Musiker eingeladen. So haben wir im Prinzip die Szene gegründet. Das war nie unser Ziel, hat sich aber so entwickelt.

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Ihr seid mit der Gruppe auch im türkischen Nationalfernsehen aufgetreten. Was waren die Reaktionen des Publikums?

Es gab ganz unterschiedliche Reaktionen. Nach unserem ersten Fernsehinterview sind die Verkaufszahlen unseres Albums gestiegen; bei manchen hat die Musik also Interesse geweckt. Unter einem Video von uns auf YouTube gibt es allerdings auch Beschimpfungen und sogar Drohungen. Lustigerweise hat dieses Video zahlreiche Nachahmer gefunden und wurde in einer türkischen TV-Serie nachgespielt. Viele junge Leute haben außerdem ihre eigenen Parodien im Internet hochgeladen. Sie wollen sich natürlich darüber lustig machen, aber manche von ihnen sind wirklich gut. Das schreibe ich ihnen dann auch immer: „Ihr seid sehr gut, ihr solltet damit weitermachen.“

Wie hat sich seitdem die Szene der freien Improvisationsmusik in der Türkei entwickelt?

Leider hat sie sich eigentlich gar nicht entwickelt. Man kann mit dieser Art von Musik in der Türkei kein Geld verdienen. In Deutschland ist das auch schwer, aber in der Türkei ist es fast unmöglich. Leben kann man jedenfalls nicht davon, deshalb war es immer ein Hobby für Musiker, die parallel auch Jazz oder Pop spielen. Viele hatten irgendwann keine Zeit oder kein Interesse mehr dafür. Aber es gibt auch heute noch aktive Projekte, z.B. ein Kollektiv namens Art is Dead. Wenn ich in Istanbul bin, spiele ich manchmal mit ihnen zusammen.

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Lass uns ein bisschen über deine Projekte sprechen. Du hast zahlreiche Kollaborationen mit Theaterregisseur*innen, Videokünstler*innen, Tänzer*innen und Spoken-Word-Artists realisiert.

Ja, ich finde es spannend, wenn meine Musik mit anderen Kunstformen in Interaktion tritt. Speziell bei Texten ist es interessant, dass die Sprache selbst wiederum eine Klangwelt darstellt, und zwar jede Sprache eine ganz andere. Außerdem enthalten Texte in der Regel ein Narrativ. Dadurch entsteht eine andere Ebene, mit der sich das Publikum oft besser verbinden kann – wie eine Tür, durch die man gehen kann, um in eine Klang- oder Kunstwelt einzutreten.

Für das Projekt Berlin Bülbül haben du und der Klarinettist David Rothenberg zusammen mit echten Nachtigallen live in Berliner Parks gespielt. Woher kam diese Idee?

Die Idee kam von David. Er spielt seit Jahren mit Tieren zusammen, zum Beispiel auch mit Walen oder Käfern. Das Projekt über Nachtigallen wollte er gerne mit mir zusammen machen. Ich habe dabei ein iPad gespielt und von den Vögeln Live-Aufnahmen gemacht. Das war eine richtige Zauberwelt, um Mitternacht im Park, mit sechzig Leuten im Publikum. Später haben wir auch ein Album mit dieser Musik herausgebracht.

Arbeitest du auch manchmal mit Musiker*innen zusammen, die traditionelle türkische Musik spielen?

Ja, bei dem Projekt Elektronik Kumpanya zum Beispiel haben wir eine Mischung aus türkischer klassischer Musik mit akustischen Instrumenten und Elektronik gespielt. Außerdem bin ich Teil des Istanbul Composers Orchestra, das u.a. kurdische, alevitische und türkische Volksmusik interpretiert. Wenn es in diesem Bereich ein interessantes Projekt gibt, mache ich gerne mit.

Ich finde aber die Erwartung an mich als türkischen Musiker schlimm, dass ich unbedingt etwas Türkisches machen soll. Besonders in Österreich und der Schweiz ist mir das viel begegnet. Da wurde ich sogar kritisiert, weil meine improvisierte Musik nicht türkisch klingt. Als ob alle Improvisationsmusiker in Österreich jodeln würden! Der Geist von improvisierter Musik ist ja gerade, dass Kategorien und Genres nicht existieren. Sie ist freie Musik, und das bedeutet auch Freiheit von Normen und Klischees.

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In deinen Projekten hinterfragst du auch gesellschaftliche Normen und Klischees. Bei der Performance Is Paradise Cheaper? ging es z.B. um Geschlechterrollen und heteronormative Bewegungsmuster. Engagierst du dich in diesem Bereich auch außerhalb der Musik?

Ich bin kein Queer-Aktivist. Politisch finde ich das Thema zwar wichtig und nötig und ich unterstütze die Bewegung, bin aber nicht aktiv. Ich sehe so aus, wie ich aussehe, und definiere mich selbst dabei nicht als Mann oder Frau, als homo- oder heterosexuell, sondern einfach als ein (sexueller) Mensch. Ich mag diese ganzen Begriffe nicht. Ich bin einfach, wer ich bin.

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