Für Alevit*innen endete am letzten Dienstag die Muharrem-Fastenzeit, in der an das Kerbela-Martyrium des Pir Imam Hüseyin gedacht wird. Um 680 n. Chr. wird der Sohn und Nachfolger des heiligen Ali mitsamt seiner Gefolgschaft von 72 Personen in der Wüste des heutigen Irak von Yezit und seinen Truppen ermordet. Yezit putschte sich damit als unrechtmäßiger Nachfolger zum Herrscher des jungen islamischen Reiches. Das zwölftägige Fasten ist für Alevit*innen von zentraler Bedeutung. Denn das Ereignis von Kerbela ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt, dass sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Für viele von ihnen ist es ein trauriges Erbe und eine Verpflichtung zugleich, sich für eine bessere Welt zu bemühen. An den Schlächter Yezit wird an diesem Tag mit Abscheu gedacht. Doch Yezit ist aktueller denn je. Der Name wird nämlich nicht nur an die historische Person geknüpft, sondern steht als Metapher für Leid, Ungerechtigkeit und Gewalt. Yezits gibt es noch heute, und zwar zu unzähligen.
Yezit der Mörder
Ebru Timtik stirbt am 27. August, weil ihr ein fairer Prozess vor Gericht in der Türkei verweigert wurde. Ein Istanbuler Gericht hatte sie zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt, weil ihr Verbindungen zur linksextremen DHKP-C vorgeworfen wurde. Dafür gibt es bis heute keine Beweise. Ebru Timtik war eine unbequeme Rechtsanwältin, die diejenigen verteidigte, die sonst keine*r verteidigen wollte, wie Linksextreme oder die Bergarbeiter aus dem Minenunglück von Soma. Nach 238 Tagen ihres Hungerstreiks verstarb sie im Istanbuler Krankenhaus Sadi Konuk, wo sie bis zum Schluss gegen ihren Willen festgehalten wurde. Zuvor kam sogar ein forensisches Gutachten zum Ergebnis, dass die Gefangene nicht haftfähig sei, doch das Gericht hatte die Freilassung trotz der Umstände abgelehnt. Die Richter als Yezits.
Anschließend wurde ihr Leichnam durch die Polizei beschlagnahmt und auch zu einem späteren Zeitpunkt, während der Bestattungszeremonie, im Cem-Haus (alevitisches Kulturhaus) Gazi wurden die Teilnehmenden durch die Sicherheitskräfte massiv unter Druck gesetzt. Die Polizei als Yezit.
Am 7. Mai verstirbt Ibrahim Gökçek der Bassist der Musikgruppe Grup Yorum. Der Musiker war in den Hungerstreik getreten, um die Aufhebung des seit 2015 verhängten Auftrittsverbots seiner Band zu erwirken. Nach 323 Tagen im Hungerstreik scheidet auch er im Reyap-Istanbul-Krankenhaus in Esenyurt aus dem Leben. Die linke Band Grup Yorum setzt sich in ihren Liedern wiederholt gegen Faschismus und Nationalismus ein. Bereits einen Monat zuvor, am 3. April, verstirbt auch die Solistin Helin Bölek nach 288 Tagen im Hungerstreik aus Protest gegen die Inhaftierung von Bandmitgliedern. Die traditionsreiche linke Musikgruppe Grup Yorum gibt dennoch nicht auf und besteht bis heute, trotz der Widrigkeiten und all der Yezits, die ihre Musik verhindern wollen.
Am 24. April des Jahres verstirbt ein weiterer politischer Gefangener im Gefängnis. Mustafa Koçak verliert nach 296 Tagen Hungerstreik für ein gerechtes Verfahren im Gefängnis in Şakran bei Izmir sein Leben. Der 28-Jährige wurde von einem Istanbuler Gericht zur lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Ähnlich wie Ebru Timtik wurde ihm vorgeworfen, Teil einer linksextremistischen Gruppe zu sein. Auch bei diesem Prozess blieb die Staatsanwaltschaft jeglichen Beweis schuldig. Das türkische Justizministerium blieb trotz besseren Wissens, um die kritische Situation von Mustafa Koçak bis zu seinem Tod untätig. Yezits im Justizministerium.
Hungerstreik als Ausdruck politischer Ohnmacht
Der Hungerstreik ist eine Form des passiven Widerstands. Mit der Verweigerung der Nahrungsaufnahme nehmen die Streikenden bewusst ein persönliches Risiko auf sich, das im schlimmsten Fall sogar den Tod bedeuten kann. Über die Sinnhaftigkeit von Hungerstreiks kann man sich streiten. Meistens ist es für die Betroffenen noch die letzte Möglichkeit ihre politische Meinung zu artikulieren. Daher sollte auch nicht die Sinnfrage dieser Streikform im Vordergrund stehen, sondern die Frage nach den Voraussetzungen, die so eine brutale Form der Meinungsbekundung nach sich ziehen. Meistens verlaufen die passiven Streiks entlang der Konfliktlinie Betroffene vs. Staat, der sie vermeintlich ungerecht oder unverhältnismäßig behandelt. Die Betroffenen sind von ihrem passiven Widerstand moralisch überzeugt, doch liegt das Gewaltmonopol und letztendlich auch die Entscheidungshoheit über den weiteren Verlauf des Konflikts beim Staat. Hungerstreiks sind das radikalste Mittel von Selbstzerstörung, um die eigenen Forderungen geltend zu machen. Das klingt nach einem Paradox. Jedoch nur für unsereinen, der/die sich getrost zurücklehnen kann, um sich über dieses Paradox Gedanken zu machen. Für betroffene Menschen ist es jedoch eine ernsthafte und legitime Wahl, um sich das letzte Stück Autonomie zu bewahren.
In der Türkei ist die Kriminalisierung und Gefängnisisolation von Gegner*innen der Regierung unter anderem ein Mittel, um die noch bestehende gesellschaftliche Solidarität zu brechen. Dabei geht es bei der Protestform des Hungerstreiks mehr noch um die gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Erst in der Resonanz entfaltet sich die eigentliche Funktion des Hungerstreiks. Doch bezeichnend für die aktuelle Situation ist die Tatsache, dass sowohl die nationale als auch internationale Empörung noch weiterhin ausbleibt. Neben routinierten Lippenbekenntnissen und standardisierten Presseerklärungen zieht es in der Regel keine deutlichen Folgen für die türkische Regierung nach sich. Die ernsthafte Empörung bleibt aus. Stattdessen ist es zur gewohnten Praxis der offiziellen türkischen Behörden geworden, nicht auf die Forderungen der Hungerstreikenden einzugehen. Im Gegenteil hat sich für sie die Methode der Ignoranz bewährt. Den Menschen beim Sterben zuzusehen. Auf dem Weg ihr Recht geltend zu machen, wählen die kriminalisierten Menschen den letzten Ausweg, die Aussicht auf den Tod. Die Regierung als Yezit.
Solidarisch gegen Yezits
Die letzten Monate zeigen, wie dramatisch sich die Menschenrechtslage in der Türkei verschlechtert hat. Viele Andersdenkende, Linke, Intellektuelle, Minderheiten und Aktivist*innen werden systematisch durch staatliche Behörden Repressionen ausgesetzt. Kritische Stimmen gegen Erdoğan und weitere regierungstreue Akteur*innen werden einsamer und leiser. Das Phänomen der Selbstzensur hat sich mittlerweile nicht nur in der Türkei etabliert, sondern ist schon längst in Deutschland angekommen. Auch hier werden die Stimmen leiser, da viele aus den türkisch/ kurdischen Communities befürchten müssen, Probleme bei der Einreise zu bekommen oder sich Sorgen um ihre dortige Verwandtschaft machen. Die Hoffnungen richten sich an die deutsche Regierung, an den deutschen Außenminister, der die kritische Menschenrechtslage in der Türkei bis heute nicht offen anspricht. Nicht nur Deutschland, sondern auch die restlichen EU-Staaten ziehen keine klare Linie oder entsprechende Konsequenzen, um nicht die staatlichen Beziehungen zur Türkei zu belasten.
Aufruf zum Leben
Aytaç Ünsal (32), ein Kollege Ebru Timtiks, wurde überraschenderweise zum Zwecke der Genesung aus dem Gefängnis entlassen. Seit 212 Tagen war er mit seiner Forderung um einen fairen Gerichtsprozess im Hungerstreik. Ünsal wurde nur auf Grundlage einer unsicheren Zeugenaussage zu einer 10-jährigen Haftstrafe verurteilt.
Yezitlerin elleri kirilsin! – Möge Yezit am Widerstand der Vielen zerbrechen!
Fotos: Shuttershock.com