Wut macht erfinderisch

Protestkulturen in Deutschland und der Türkei

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Proteste sind nicht nur allgegenwärtig, sondern auch vielfältig. Es existieren zahlreiche Möglichkeiten, Widerspruch auszudrücken. Soziale Bewegungen können ungeahnte Kräfte freisetzen und Einfallsreichtum fördern. Dass es zum Beispiel tausend kreative Formen gibt, „Hayir“ zu sagen, haben in jüngster Zeit viele Menschen in der Türkei bewiesen.

Proteste in Kadiköy anlässlich des Referendums

Wie ist das mit der Kreativität im Protest? Ich frage nach bei Seraphine Meya. Sie ist Theoretikerin und Aktivistin und promoviert an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe zu „Humor, Utopie und Optimismus in Kunst und Aktivismus“. „Kreativer Protest ist gerade in Verbindung mit Humor oft sehr mutig ist und wird besonders in diktatorischen Regimen als Möglichkeit genutzt, der politischen Autorität die Stirn zu bieten“, sagt Meya. Der kreative, humorvolle Protest erhalte den demokratischen Dissens aufrecht und diene den Protestierenden als Möglichkeit, gesetzliche Begrenzungen zu umgehen. Die Lust am Protestieren setze neue Energien frei.

Was Meya damit meint, versteht jeder, der vor vier Jahren die Gezi- Bewegung miterlebt hat. Burak Tamer von der Rockband „Replikas“ hat es 2013 im taz-Interview über den Gezi-Sommer auf den Punkt gebracht: „Die Kreativität explodiert hier gerade.“

Protest gibt es in der Türkei aber nicht erst seit der Gezi-Bewegung. Und auch Deutschland hat diesbezüglich mehr zu bieten als den 1. Mai in Berlin-Kreuzberg. Wie wurde und wird in der Türkei gekämpft und welche Formen von Rebellion gibt es in Deutschland?

® flickr/ Serkan Köse, Gezi-Proteste am Taksimplatz 2013

Demonstrationen

Die älteste Form der Auflehnung ist sicherlich die Demonstration. Sie kann kreativ oder spießig sein, laut oder leise, groß oder klein. Immer aber versammeln sich Menschen öffentlich sichtbar, um gemeinsam ihre Unzufriedenheit über etwas auszudrücken oder Forderungen zu formulieren.

Nicht wenige Demonstrationen haben den Lauf der Geschichte maßgeblich beeinflusst: Als am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg bei einer Demo gegen den Besuch des iranischen Schahs in Berlin von einem Polizisten (und Stasi-Mann) erschossen wurde, war dies der Auslöser der westdeutschen Studentenbewegung. Demonstrationen in der DDR brachten 1989 die Berliner Mauer zu Fall. Und am 1. Mai 1977 kam es in Istanbul zu einem Ereignis, das noch Jahre später nachwirkte: Auf der bis dahin größten Demo in der Geschichte der Türkischen Republik (500 000 Menschen auf dem Taksim-Platz) fielen Schüsse, eine Massenpanik brach aus und mehr als 30 Menschen starben. Seitdem ist laut dem in der Türkei inhaftierten deutschen Journalisten Deniz Yücel Taksim ein „heiliger Ort für all jene, die von Herzen irgendwie links sind“.

Streiks

Streiks – vor allem in Form der kollektiven Arbeitsverweigerung – sind ebenfalls Klassiker der Protestgeschichte. In der Bundesrepublik ist Streiken nur im Rahmen von Tarifverhandlungen erlaubt, politische Streiks sind verboten. Der letzte Generalstreik fand 1948 in der US-amerikanischen und britischen Besatzungszone statt. Er richtete sich gegen niedrige Löhne bei steigenden Preisen. Neun Millionen Arbeitnehmer*innen beteiligten sich. In der DDR kam es – ausgelöst durch einen Beschluss zur Erhöhung der Arbeitszeiten in den staatlichen Betrieben – am 17. Juni 1953 zu einem Massenstreik, den man heute als „Aufstand vom 17. Juni“ kennt. In den 70er Jahren wurden zunehmend Arbeitskämpfe von Gastarbeiter*innen geführt. Als im August 1973 türkei-stämmige Gastarbeiter*innen bei Ford in Köln streikten, das Werk sechs Tage lang besetzten und in den Fabrikhallen Halay tanzten, war dies vielleicht der erste sichtbare Ausdruck davon, dass bundesdeutsche Protestkultur eben auch deutsch-türkisch sein kann.

Auch in der Türkei fanden und finden regelmäßig Streiks statt, entweder in einzelnen Branchen (zum Beispiel für höhere Löhne) oder – anders als in Deutschland – ganz offiziell zu allgemeinpolitischen Themen. Nach den Anschlägen auf eine Friedensdemo in Ankara im Herbst 2015 riefen mehrere Gewerkschaften zu einem zweitägigen Generalstreik auf. Allerdings vertreten sie nur eine Minderheit unter türkischen Arbeitnehmer*innen. Denn der Einfluss der Gewerkschaften ist in der Türkei stark zurückgegangen. Seit dem Putschversuch im letzten Juli sind Streiks aufgrund des seitdem geltenden Ausnahmezustandes de facto verboten.

Hungerstreiks

Eine drastische Form des Streiks ist der Hungerstreik. Der bekannteste Hungerstreik in der Geschichte der Bundesrepublik wurde 1973 und 1974 von Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) geführt. Die Gruppe um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof protestierte damit gegen ihre Haftbedingungen. Im November 1974 starb der 33-jährige Holger Meins in der Justizvollzugsanstalt Wittlich mit einem Gewicht von nur 39 kg. Trotz der damals hohen Aufmerksamkeit für das Thema, sind Hungerstreiks in Deutschland wenig verbreitet. In letzter Zeit greifen Refugee-Aktivist*innen mehrfach auf dieses Mittel zurück.

Nuriye Gülmen und Semih Özakca bei einer Demo

Ganz anders in der Türkei: Aktuell hungern Nuriye Gülmen und Semih Özakca gegen ihre Entlassung aus dem Öffentlichen Dienst. Damit bedienen sich die beiden Akademiker*innen einer in der Türkei traditionsreichen Protestform: Zu einer regelrechten Sterbewelle kam es 2001, als vor allem linke und kurdische Gefangene in türkischen Gefängnissen gegen die Verlegung aus Großraumzellen in kleinere Zellen protestierten. Das Todesfasten dauerte viele Monate und forderte mehr als 120 Menschenleben.

Petitionen, Aufrufe und Appelle

Petitionen, Appelle und Aufrufe sind die gerne belächelten kleinen Schwestern des Straßenprotests. Heute kann über Plattformen wie Change.org oder openpetition.de quasi jeder einen Aufruf starten und dafür Unterschriften sammeln.

Der zurzeit bekannteste Aufruf der Türkei ist wohl jener der Gruppe „Barış İçin Akademisyenler“ („Academics for Peace“). Diese hatte Anfang 2016 einen Appell für Frieden gestartet mit dem Titel „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein!“. Dafür wurden die Initiator*innen vor Gericht gestellt. Eine in Deutschland sehr erfolgreiche Petition ist „Freiheit für Deniz“ auf change.org, die von fast 120 000 Menschen unterschrieben wurde und die Freilassung von Deniz Yücel und allen in der Türkei inhaftierten Journalist*innen fordert.

In der Prä-Internet-Ära war die Hürde für Petitionen und Aufrufe zwar wesentlich höher. In Deutschland war die Appell-Kultur trotzdem weitverbreitet. Meist starteten bekannte Persönlichkeiten einen Appell zu einem bestimmten Thema, verzierten diesen dann mit einem Städtenamen und voilà, fertig waren der Frankfurter Appell (gegen die Rechtschreibereform 1996), der Berliner Appell (für Frieden, 1982), der Rostocker Appell (ebenfalls Frieden, 1983 in der DDR) und so weiter und so fort.

Graffiti

Seit 1968 prangt im Sportstadion der renommierten Ankaraer „Orta Doğu Teknik Üniversitesi“ (ODTÜ, Technische Universität des Nahen Ostens) in großen, weißen Lettern das Wort „Devrim“ (Revolution) – es ist die Mutter der politischen Graffiti in der Türkei. Auch heute noch sind Graffiti dort ein beliebtes Mittel des Protestes.

Grafitti an der ÖDTÜ 1968

Und in Deutschland? In der DDR waren politische Graffiti recht verbreitet, da die Anonymität dieser Aktionsform vor staatlicher Repression schützte. Ein Beispiel ist die Welle von „Dubček“-Parolen, die 1968 an Häuserwänden auftauchten und Verbundenheit mit dem Prager Frühling ausdrückten.
In der Bundesrepublik wiederum wurden auch gerne mal ganze Fassaden besetzter Häuser mit deutlichen Botschaften verziert. An der Seitenfassade des Hauses in der Köpenicker Straße 137 („Köpi“) heißt es „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten“. Am Leopoldplatz im Berliner Stadtteil Wedding haben Streetart-Künstler an zwei Häusern in schwindelerregender Höhe die Schriftzüge „Hartz 4 essen Seele auf“ und „Migration is not a crime“ angebracht.

Ein Motiv, das Berlin und Istanbul verbindet, ist die geballte, gelbe, „fliegende“ Faust des Künstlers Kripoe von der CBS Crew. Sie tauchte in den Nullerjahren zum ersten Mal auf.

Musik, Film und Kunst

Seit jeher haben sich überall auf der Welt künstlerisches Schaffen und Widerstand gegenseitig beeinflusst und befruchtet. Der bekannte türkische Lyriker Nâzim Hikmet war gleichzeitig aktiver Kommunist. Mit der Gezi-Bewegung solidarisierten sich unzählige Kunstschaffende: Bands wie die bereits erwähnten „Replikas“ beteiligten sich an Aktionen, der Pianist Davide Martello spielte auf dem Taksim-Platz.

Auch in der Bundesrepublik gab und gibt es viele Künstler*innen, die sich politisch betätigen. Die Liste reicht von Berthold Brecht, Käthe Kollwitz und Anna Seghers, über Günther Grass und Claus Peymann bis hin zu Shermin Langhoff. Im Februar wurde während der Eröffnungsgala des Berlinale-Filmfestivals ein Bild des inhaftierten Deniz Yücel auf die Leinwand hinter der Bühne projiziert.

© Berlinale 2017

Wir leben in unruhigen Zeiten und es gibt gute Gründe anzunehmen, dass dies erst einmal so bleiben wird. Fruchtbarer Boden also für Widerstand aller Art – ob nun in Istanbul, Ankara, Hamburg oder Berlin. Wie gut, dass dafür aus einer reichhaltigen und vielfältigen deutsch-türkischen Protestgeschichte geschöpft werden kann.

 

Titelbild: ® flickr/ Ekrem Koray Berkin

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