Der pensionierte Schauspieler Aydin (Haluk Bilginer) unterhält gemeinsam mit seiner Frau und seiner Schwester ein Hotel in Zentralanatolien. Das Zusammenleben auf engstem Raum bringt allmählich verdrängte Konflikte zum Vorschein. – „Winterschlaf“ (Originaltitel: Kış Uykusu), des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan, wurde 2014 bei den Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet und läuft nun im Free TV bei arte.
„Sich gegen das Böse nicht wehren. Was bedeutet das für dich?“, fragt Necla im ersten Drittel ihren Bruder Aydın und löst damit eine Welle von Dialogen aus. Das zweite Drittel zeigt sich durch grandiose Bildkompositionen. Das letzte verbindet diese kaum zu beschreibenden Bilder der Landschaft Kappadokiens mit einem dialogreichen Kammerspiel und repräsentiert die Seele von Winterschlaf.
Nuri Bilge Ceylan ist nicht nur Regisseur, er ist auch Fotograf. Das zeigt sich im Film deutlich. Eine zersplitterte Autoscheibe ist nicht bloß das Resultat eines Steinwurfs, sie wird inszeniert zum Sinnbild für wachsende Unruhen.
Der ehemalige Schauspieler Aydın (Haluk Bilginer), seine jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) und seine geschiedene Schwester Necla (Demet Akbağ) bilden die drei Hauptfiguren des Films. Zusammen betreiben sie in den Bergen Kappadokiens ein kleines Hotel. Aydın besitzt einige Immobilien. Sein Leben ist auf den ersten Blick sehr beschaulich, doch er ist der reichste Mann in der armen Gegend. Er sagt in einem Gespräch mit seiner Schwester: „Mein Königreich ist sehr klein, aber ich bin dennoch der König.“
Zahlreiche Bücher und Bilder, unter anderem auch eine Fotografie mit Omar Sharif (Hauptdarsteller im Film „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“) an der Hotelwand verstärken das Bild vom wohlhabenden, gebildeten Mann.
Den Problemen seiner Untermieter widmet Aydın sich ungern. Dafür hat er Hidayet (Ayberk Pekcan) und seine Anwälte. Zudem kommen während des langen Winters nur wenige Touristen in das Hotel. Er kann sich Wichtigerem widmen: dem Verfassen philosophischer Kolumnen für eine Lokalzeitung und dem Schreiben eines Buches über das türkische Theater.
Die Länge des Films, die zeitliche Nähe und der in Anatolien angesiedelte Schauplatz weisen auf den ersten Blick Parallelen zu Ceylans letztem Film „Once Upon a Time in Anatolia“ auf. Doch während sich bei „Once Upon a Time in Anatolia“ die Handlung im nächtlichen Außen zuträgt und seine inhaltliche Vieldeutigkeit durch Schweigen vermittelt wird, wählt Ceylan in Winterschlaf ausgefeilte Dialoge als Ausdrucksmittel und vermittelt ein in sich geschlossenes Gefüge.
188 Minuten länge lohnen sich. Nuri Bilge Ceylan führt den Zuschauer in die Kunst des Konflikts ein. Immer wieder findet Ceylan einen Weg, stereotype Konflikte auf spannende Weise aufzulösen. Viele Motive und Erzählstränge müssen sich nicht treffen, sondern können nebeneinander existieren. So wird zum Beispiel ein kleiner Junge von seinem Onkel gezwungen, sich mit einem Handkuss bei Aydın für das zersplitterte Autofenster zu entschuldigen. Für den Betrachter bieten sich nur zwei Varianten, diese Szene aufzulösen. Erstens, der Junge küsst die Hand und verschenkt die Würde seines Vaters. Zweitens, er weigert sich und provoziert Aydın. Doch Ceylan erschafft einen dritten Weg. Als der Junge vor der ausgestreckten Hand steht, fällt er in Ohnmacht.
Für diejenigen, die leider die Premiere verpasst haben, aber den Film jetzt schauen möchten, es gibt gute Nachrichten:
Nachdem am 11. Dezember 2014 Winterschlaf bundesweit in ausgewählten Kinos lief, zeigt ihn jetzt arte das erste mal im free TV. Sendetermin ist Montag, der 28. November um 20.15 Uhr. Falls ihr es nicht schafft, ist er online bei arte in der Mediathek zu finden vom 28. November bis zum 6. Dezember 2016.
Credits
Text: Büke Schwarz