Es wurden schon viele Texte über Tinder geschrieben. Das was jetzt kommt, könnte für den einen oder anderen vielleicht neu sein. Denn die folgende Erfahrung mit Tinder – aber wohl jeder anderen Dating-App auch – kann man nur machen, wenn man eine türkische Frau ist.
Bevor man sich als türkische Frau entscheidet, auf dem Online-Single-Markt einen eigenen Stand aufzubauen, müssen zunächst innere moralische Hürden überwunden werden. Entscheidet man sich gegen ein Fake-Profil auf dem nur der Arsch, eine Titte oder Jennifer Lopez zu sehen ist, hat man den ersten bedeutenden Schritt getan.
Für uns türkische Frauen ist es keine nette Nebenbeschäftigung, sondern ein politisches Statement uns öffentlich mit unserem Gesicht als „Single auf der Suche“ zu outen. Wir zeigen der ganzen Welt damit, dass wir Frauen sind, die einen Mann brauchen . Keinen Ehemann, sondern einen Mann.
Denn bei Tinder geht es nicht ums Heiraten. Es geht in erster Linie um Triebe, Sehnsüchte, Wünsche. Dinge, die auch wir Türkinnen haben. Dinge, die von einer bestimmten Gruppe nicht so gern gesehen werden: von türkischen Männern. Türkischen Männern, die, in enge Unterhemden gekleidet, online ihrem Wunsch nach Anerkennung freien Lauf lassen. Und dabei bitte nicht von ihrem Gewissen gestört werden wollen.
Wenn sie auf der Suche nach einer Lady auf eine türkische Frau treffen, fühlen sie sich beobachtet und entlarvt. Sie schlüpfen aus der Rolle des Gigolos in die Rolle des großen Bruders und fragen einen “Was suchst Du hier? Bist Du eine Schlampe oder was?!“ Die Antwort darauf kann nur lauten: “Ja, ich bin eine Schlampe. Genauso wie du!”
Wir alle sind Menschen, deren Hormone nicht nur im Biologie-Unterricht eine Rolle spielen. Wir können unsere Sexualität nicht einfach vor der Tür abstellen, so wie unsere Schuhe.
Offenheit bei türkischen Frauen wird schnell gleichgestellt mit Provokation. Eine eindeutige Geste fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Ein eindeutiger Flirt wie ein Schimpfwort.
Wir sollten uns nicht entscheiden müssen, ob wir eine Hausfrau oder eine Hure sein wollen.
Zwischen diesen beiden „Ländern“ liegen noch etliche Orte, in denen man sich zu Hause fühlen kann. Orte, die ihre Grenzen haben. Grenzen, die man einhalten – aber auch überschreiten kann.
Illustration: Mathis Rekowski