#UnutMADIMAKlımda

Ein mahnendes Gedenken an die Opfer des Brandanschlags von Sivas ‘93

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Das Jahr 1993 verbindet durch zwei fast zeitlich parallel stattfindende “tragische Ereignisse“ Deutschland mit der Türkei. Erst der Brandanschlag von Solingen im Mai ’93, bei dem unschuldige Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei umkamen und der Brandanschlag von Sivas im Juli ’93, bei dem Künstler*innen und Kulturschaffende mit mehrheitlich alevitisch-kurdischem Hintergrund in der Türkei starben. Verwoben sind Deutschland und die Türkei mit dem darauffolgenden gesellschaftspolitischen und öffentlichen Umgang dieser “tragischen Vorfälle“, die eine lange und bis heute immer noch nicht lückenlos aufgearbeitete Narrative der Tätermitschuld rechtsextremer Gewalt weiter fortsetzen. 

Wie die feuerlegenden Hände von Sivas 30 Jahre später immer noch in Unschuld gewaschen werden

Eigentlich sollte am 02. Juli 1993 in der zentralanatolischen Stadt Sivas ein friedliches alevitisches Kulturfestival zu Ehren des Dichters Pir Sultan Abdal stattfinden, zu dem alevitische Schriftsteller*innen, Musiker*innen, Verleger*innen und Dichter*innen eingeladen waren. Mit dem Auftritt des international bekannten türkischen Schriftstellers Aziz Nesin, wendete sich das Blatt, da er in seiner Rede die Demokratieverdrossenheit der Mehrheit des türkischen Volkes anprangerte und ihre Mutlosigkeit auf Faul- und Dummheit zurückführte. Zuvor provozierte Nesin mit seiner Veröffentlichung des ins türkische übersetzten Romans „Die satanischen Verse“ vom indisch-britischen Schriftsteller Salam Rushdie konservative sunnitische Kreise, die in Antlitz der Selbstjustiz von Islamisten und Nationalisten einen Brandanschlag auf ihn verüben wollten. 

So versammelte sich am 02. Juli ’93 ein wütender Mob (ca. 20.000 Personen) vor dem Madımak-Hotel, um gegen Aziz Nesin zu protestieren und begannen das aus Holz gebaute Hotel mit Brandsätzen zu bewerfen. Im gleichen Hotel waren auch die alevitischen Schriftsteller*innen, Musiker*innen, Verleger*innen und Dichter*innen untergebracht, von denen die meisten durch das sich rasch ausbreitende Feuer ums Leben kamen. Aziz Nesin überlebte den Anschlag mit leichten Verletzungen, doch 35 Menschen verbrannten, weil sie wegen der wütenden Menschenmenge draußen vor dem Hotel nicht flüchten konnten und schließlich vom Feuer eingekesselt wurden. Der pogromartige Angriff wurde live im türkischen Fernsehen übertragen und man schaute zu, wie die Feuerwehr bei den Rettungsarbeiten durch den wütenden Mob behindert wurden, vereinzelte Polizisten den Tätern in der Menge noch Hilfe leisteten und sich eine anrückende Militäreinheit plötzlich zurückzog. 

Dieser nationalistisch-religiös motivierte Anschlag brannte sich als das „Sivas-Massaker“ in das kollektive Gedächtnis der Alevit*innen in der Türkei und in Deutschland ein, da die Mehrzahl der Todesopfer Alevit*innen waren und ihre Glaubensgemeinschaft schon seit ihrer Existenz Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung erleiden musste. Die unterlassene Hilfeleistung seitens des türkischen Staates und ihre Ablehnung gegenüber einer umfassenden juristischen Aufarbeitung sowie Verurteilung der Täter schürte das Misstrauen und das Gefühl des im Stich gelassen worden seins innerhalb der alevitischen Community noch stärker. Hinzu kam noch, dass die Mehrheit der Sunnit*innen jegliche Verantwortung von sich wiesen und den Vorwurf einer Tätermitschuld abstritten. Höhepunkt der Polarisierung einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft und Staat in der Türkei ist die Tatsache, dass zahlreiche Täter noch immer flüchtig sind und viele sich mit einer neuen/anderen Identität in Deutschland aufhalten und somit ihre Anonymität von den deutschen Sicherheitsbehörden gewahrt wird. Man weist darauf hin, dass anscheinend nicht bei allen ein internationaler Haftbefehl an die Botschaften weitergeleitet worden sei, der türkische Staat allerdings weist diese Vorwürfe zurück. 

Zur Prägung und Nachwirkung des Brandanschlags von Sivas ’93 in Deutschland

Das türkische Sprichwort „Ateş düştüğü yeri yakar.“, das im deutschen sinngemäß „Unter einem Unglück leidet nur der, den es trifft.“ oder „Fremder Schmerz geht nicht ans Herz.“ entspricht, fasst die Erwartungshaltung der in Deutschland und in der Türkei lebenden Alevit*innen treffend zusammen. Der Brandanschlag von Sivas ’93 hat die in Deutschland lebenden Alevit*innen, die mehrheitlich durch das Gastarbeiter Anwerbeabkommen von 1961 in die BRD kamen, in einem besonderen Maße geprägt, da sie sich hier in den 90ern als Bewegung organisiert und sich zu einer eigenständigen Glaubensgemeinschaft zusammengeschlossen hatten, aus der dann schließlich der Dachverband der Alevitischen Gemeinde Deutschland K. d. ö. R. entstand war. Während die Alevit*innen in der Türkei bis heute nicht als eigenständige Glaubensgemeinschaft anerkannt und als Bürger*innen zweiter Klasse behandelt werden, haben sie hier in Deutschland den Rechtsstatus einer anerkannten Glaubensgemeinschaft erlangt und genießen staatlichen Schutz. 

Doch in Anbetracht dieser Errungenschaft, die sich auf das Grundgesetz stützt und geltende Minderheitenschutzrechte diverser Glaubensgemeinschaften in der Verfassung Deutschland verankert ist, tut sich der deutsche Staat mit der Verantwortung einer lückenlosen Aufarbeitung sowie Aufklärung des Sivas-Massakers von ’93 ziemlich schwer, da er kaum Initiative ergreift und die wahre Identität der mittlerweile in Deutschland lebenden Täter offenlegt, damit eine strafrechtliche Ahndung erfolgen kann. Ungereimtheiten bei einer konkreten Tatbeteiligung und Zweifel am rechtsstaatlichen Zustandekommen, die durch die Militärrichter in der Türkei mit unfairen Urteilen gefällt und unsauberer Dokumentation der Tatbestände begünstigt wird, sind die Folge.  

Deutschland sollte sich der Verantwortung gegenüber seinen Staatsbürger*innen mit alevitischem Hintergrund bewusst sein, dass ihnen die Untätigkeit deutscher Sicherheits- und Rechtsbehörden ein Dorn im Auge ist. Die Täter vom Brandanschlag in Sivas ’93 leben unter uns und genießen Freiheit und Schutz in Deutschland. Eine Haftstrafe wird nicht vollzogen, da man zögert weitreichende Ermittlungen aufzunehmen und die Täter in die Türkei auszuliefern. Solange man von einer moralisch aufgeladenen Erinnerungskultur rechtsextremer Gewalt spricht, in der prägende und nachwirkende Ereignisse wie der Brandanschlag von Sivas und Solingen ’93 allein von einer deutschen Mehrheitsgesellschaft richtungsweisend mitgetragen wird, kann kein Empowerment für antirassistische Bildungsarbeit entstehen, bei dem es zu einem gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel mit dem Umgang rechtextremer Gewalt und einer Tätermitschuld Deutschlands kommt. 

Ein symbolisches Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Hinterbliebenen des Brandanschlag von Sivas und Solingen ’93 in Form von Solidaritätsbekundungen und angedachten Mahnmalen war erst der Anfang einer aufgeklärten und authentischen Erinnerungskultur, die die Erfahrungen der migrantischen Community in Deutschland miteinbezieht. Noch steckt sie in ihren Kinderschuhen und müsste durch die institutionelle Verankerung im Grundgesetz Anklang finden. 

 

Text: Dilek Kalın

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