„Karabiberim vur kadehlere, hadi içelim, içelim her gece. Zevki sefa, doldu gönlüme, hadi içelim, acıların yerine…“ (sinngemäß auf Deutsch: „Schwarzer Pfeffer traf die Becher, lasst uns trinken, jeden Abend trinken. Vergnügungszeit, mit vollen Herzen, lass uns trinken, anstatt Schmerz zu spüren…“)
Mit diesen Zeilen aus dem Song “Karabiberim“ landete der türkische Popsänger Serdar Ortaç 1994 einen erfolgreichen Hit. Der Song wird heute noch auf türkischen Hochzeiten, Familienfeiern und Clubs rauf und runter gespielt und hat all die Jahre kaum an seiner Popularität eingebüßt. Es ist ein melancholisch-heiterer Popsong, in dem es über das überwältigende Gefühl der Liebe geht – Emotionen, die man offenbaren und seine Verliebtheit mit Alkohol anstoßend zelebrieren möchte.
Also tanzen die TürkInnen zu diesem Song, singen ihn lauthals mit, wenn es etwas Schönes im Leben zu feiern gibt. Folglich wird, vom Inhalt des Liedtextes ausgehend, das Trinken von Alkohol mit Amüsement assoziiert. Während Lieder über den Alkoholkonsum nicht verboten werden, sind im türkischen Fernsehen kurioserweise verpixelte Gläser zu sehen. Warum ist das so? Wurde hier allein aus Jugendschutzgründen zensiert oder hat RTÜK, die türkische Regulierungsbehörde für den staatlichen Rundfunk, weitere Handlungsmotive?
Die Wurzeln der türkischen Rakı-Trinkkultur
Dabei ist das Trinken von Alkohol in der türkischen Community besser als ihr Ruf. Wenn man auf die Geschichte des Alkoholtrinkens in der Türkei zurückblickt, stößt man auf die traditionelle Rakı-Kultur der Osmanen. Heute ist Rakı das geistige Nationalgetränk der TürkInnen, welches schon seit dem 15. Jahrhundert in den ehemaligen Gebieten des Osmanischen Reiches gebrannt und traditionell im Meyhane getrunken wird. Das Wort „Meyhane“ bedeutet Weinhaus und kommt aus dem Persischen, es setzt sich aus den zwei persischen Wörtern mey (dt. Wein) und khāneh (dt. Haus) zusammen.
In der Türkei gleicht eine Meyhane einem traditionellen Restaurant oder einer Bar, in dem alle Gäste unterschiedlicher Konfessionen, sprich muslimische, jüdische, armenische sowie griechisch-orthodoxe zusammensitzen und Rakı oder Wein trinken. Zu den alkoholischen Getränken werden verschiedene Meze, kalte und warme Vorspeisen, serviert, deren Zutaten sich aus dem ganzen ethnischen und religiösen Reichtum des zerbrochenen Osmanischen Reichs zusammensetzen, gemeinsam verzehrt. Das Rakı-Trinken ist eine Art Zeremonie, bei der folgende goldene Regel gilt: man trinkt nicht, um betrunken zu werden! Diese Anstandsregel ist strengstens zu befolgen, denn die Meyhane-Kultur lehnt jeden physisch ausgetragenen Streit ab, auch wenn an den Tischen alle Gedanken frei ausgetauscht werden.
Das Rakı-Trinken ist eine Art Zeremonie, bei der ursprünglich folgende goldene Regel gilt: man trinkt nicht, um betrunken zu werden!
Selbst mit der Staatsgründung der türkischen Republik galt die Rakı-Kultur nach dem Gründervater Mustafa Kemal Atatürk als nationales Heiligtum. Wenn es doch eine traditionelle und kulturelle Trinkgewohnheit gibt, warum haben die TürkInnen in der Türkei sowie in Deutschland dennoch ein ambivalentes Verhältnis zu Alkohol?
Trinkst du etwa?
Auf Geburtstagen, Hochzeiten oder WG-Partys schaut manch einer verwundert, wenn Gäste mit türkischem Migrationshintergrund Sekt oder Bier trinken. Darauf folgt meist die stereotypische Frage: „Ach, trinkst du eigentlich Alkohol?“. Ein interessantes und zugleich irritierendes Phänomen, wenn man davon ausgeht, dass TürkInnen als Muslime ja doch eigentlich keinen Alkohol trinken dürfen. Warum gibt es dann trotzdem TürkInnen die Alkohol trinken und welche, die es ablehnen? Herrscht somit kein allgemeiner Konsens darüber, ob man als TürkInnen Alkohol trinkt oder nicht?
Diese Fragen verdeutlichen, dass das Thema Alkohol in der türkischen Community viel komplexer ist als man denkt. Wenn TürkInnen gefragt werden, ob sie Alkohol trinken, zieht sich erst einmal innerlich kurz etwas zusammen, der Blick wandert dann zu den anderen TürkInnen, die am Tisch sitzen und die Frage hinterlässt einen bitteren Geschmack. Man empfindet die Frage als unangebracht und unangenehm zu beantworten. Woher kommt dieses Gefühl und diese Kontroverse? Könnte es sein, dass die persönliche Positionierung zum Thema Alkohol viel über die eigene religiöse und moralische Haltung als Person in der türkischen Community aussagt?
Je nach dem, wie man als TürkIn zum persönlichen Alkoholkonsum steht, hat man das Gefühl eine Angriffsfläche für Spott, Abtrünnigkeit und schlechte charakterliche Eigenschaften zu bieten.
Aber wie ist das möglich? Warum wird auf der einen Seite in der türkischen Popkultur und in den Mainstreammedien das Trinken von Alkohol mit Freude, Glück und etwas Sozialem in Verbindung gesetzt und auf der anderen Seite, im Privaten und Alltäglichen, als Sünde und etwas Schlechtes abgestempelt? Woher kommt diese moralische Zerrissenheit? Liegt es an der Religiosität des Einzelnen? Ist es ein kultureller Codex, der bei Verstoß geahndet wird? Wer hat die Deutungshoheit darüber zu urteilen, ob jemand ein schlechter Mensch ist, nur weil man Alkohol trinkt?
Die türkische Widersprüchlichkeit
Diese Widersprüchlichkeit spiegelt vielleicht den noch immer lebendig gehaltenen Mythos des Orients und Okzidents wider – die vorgelebte Traditionalität innerhalb der türkischen Community und ihrem schwierigen Umgang mit Modernität. Das Konzept der Modernität geht mit einer liberalen Gesellschaft einher, in der Alkohol frei von religiösen und moralischen (Vor-) Urteilen konsumiert wird. Es gibt lediglich nur gesetzliche und gesundheitliche Vorschriften, unter welchen Umständen es nicht getrunken werden sollte. Darüber hinaus ist es dem freien Willen des Individuums überlassen, in welchem Gemütszustand, wo und mit wem man Alkohol trinken möchte.
Die Kategorien wie Sünde, guter vs. schlechter Mensch und Haram spielen für den Entscheid und Verzicht des Alkoholkonsums eigentlich kaum eine Rolle. Aber dennoch haben einige TürkInnen diese Kategorien so stark verinnerlicht, obwohl sie im “liberalen“ Deutschland geboren und aufgewachsen sind und ihre Eltern zuvor in der Türkei den Säkularismus auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene größtenteils erlebt haben.
Die Angst, dass jemand aus der türkischen Community über einen schlecht reden und urteilen könnte, sitzt immer noch sehr tief. Das eigene Ansehen und der Stolz innerhalb der Community wirkt empfindlich gegenüber der Ächtung und bestärkt ihr ambivalentes Verhältnis zu Alkohol. Diese Vorurteile zerstören den sozialen Aspekt des Alkoholtrinkens, denn bei Feierlichkeiten kommen Familie und Freunde zusammen, stoßen gemeinsam an und zelebrieren die kollektiv empfundene Freude.
Die religiöse Dimension des Alkohol-Dilemmas der TürkInnen
Wie es scheint herrscht in der türkischen Community zum Thema Alkohol Verwirrung und genau hier gibt es nachzuholenden Aufklärungsbedarf. Der schwere und kontroverse Zugang zur Alkohol-Debatte lässt sich möglicherweise auf die Religionszugehörigkeit der TürkInnen, sprich den Islam, zurückführen. Erwähnenswert sind hier vier Koranstellen, die sich explizit zum Alkoholkonsum äußern: davon eine positiv, zwei unscharf und die vierte und letzte negativ (siehe Sure 2 Vers 219, Sure 4 Vers 43, Sure 5 Vers 90 und Sure 16 Vers 67). In der traditionellen islamischen Rechtswissenschaft wird die Abrogation angewandt, wonach im Falle sich widersprechender Suren die später aufkommenden Suren frühere „aufheben“.
Diese Auffassung wird sowohl im sunnitischen als auch im schiitischen Islam und in allen Rechtsschulen (sunnitische: Hanafiya, Malikiya, Schafiya, Hanbaliya; schiitische: Dschafariya, Zaidiya) vertreten. Das Alkoholverbot im Koran ist also keineswegs eindeutig, sondern Resultat eines frühen Übereinkommens von Rechtsgelehrten, die eben das Prinzip der Abrogation einführten, und dieses wurde dann über Jahrhunderte beibehalten.
Einen Sonderfall stellen die AlevitInnen dar. Sie sind eine heterogene Religionsgemeinschaft, wonach einige AlevitInnen sich zum Schiitentum bekennen, andere wiederum sich als eigenständige Konfession im Islam verstehen oder das Alevitentum als nichtislamische Religionslehre betrachten. Die AlevitInnen sind eine vorwiegend in der Türkei beheimatete Glaubensrichtung und die zweitgrößte Religionsgruppe (ca. 15-20%). Sie gelten als besonders liberal und die für Sunniten verbindlichen religiösen Pflichten und Verbote aus dem Koran werden von AlevitInnen nicht zwingend befolgt. Der Koran wird hier nicht als Gesetzbuch verstanden, sondern als eine Niederschrift von Offenbarungen Gottes an den Propheten Mohammed.
Also scheint die religiöse Dimension des Alkohol-Dilemmas der TürkInnen großen Einfluss auf ihr ambivalentes Verhalten zu haben. Die persönliche Haltung der TürkInnen zum Thema Alkohol kann vielleicht durch die unterschiedliche Interpretation des Islam, als einer von vielen weiteren Faktoren, verstanden werden. Man könnte dadurch ihre unterschiedlichen Auffassungen zum Alkoholkonsum besser nachvollziehen.
Nichtsdestotrotz wird in islamischen Ländern nach wie vor gerne zum Glas gegriffen. Einige alkoholische Spezialitäten sind sogar in islamischen Ländern entstanden – wie eingangs erwähnt der türkische Rakı. Also, so oder so, tolerant bleiben!
Text: Dilek Kalın
Illustration: Yasmin Anılgan