„Allah rahmet eylesin“ – „Möge Allahs Gnade mit ihm*/ihr* sein“
Neben „Başın sağolsun“ („Mein Beileid“) ist das eine der gängigen türkischen Beileidsbekundungen, die betroffene Angehörige nach einem Tod hören.
Während ich beobachte, wie mein Dede älter und kränker wird, befasse ich mich vermehrt mit der Frage, wie ich mich als hybrid türkisch-deutsche Person wohl verhalte, wenn er nicht mehr da ist.
Wie gehe ich mit dem Verlust eines geliebten Menschen um, der für den Rest meines Lebens in der Türkei begraben sein wird, also tausende Kilometer entfernt? Wie gestalten sich Rituale um den Tod in der türkischen Community? Was kommt bei der Beerdigung auf mich zu? Und was antworte ich, wenn mir jemand Beileid ausspricht?
Mit dem Verlust meines Dedes würde nicht nur ein geliebter Mensch verschwinden, sondern auch ein Stück Migrationsgeschichte – eine ganze Generationengeschichte. Wäre er nicht 1960 als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, um in Karlstadt am Main in der Zement-Fabrik Schwenk bis in die Nacht zu schuften und rußgefärbt in seine türkische WG zurückzukehren, wäre meine Nene nicht mit ihren Kindern nachgezogen und meine Mutter vielleicht gar nicht geboren. Wir Enkelkinder wären vermutlich nicht hier.
All diese Ereignisse und Beziehungen machen mich zu dieser Persönlichkeit. Ich bin, wie Salman Rushdie einst formulierte,
„(…) die Summe all dessen, was vor mir geschah,
all dessen, was unter meinen Augen getan wurde,
all dessen, was mir angetan wurde.
Ich bin jeder Mensch und jedes Ding,
dessen Dasein das meine beeinflusste
oder von meinem beeinflusst wurde.
Ich bin alles, was geschieht,
nachdem ich nicht mehr bin,
und was nicht geschähe,
wenn ich nicht gekommen wäre.“
Schließlich ist auch mein Dede die Summe dessen, was nicht geschähe, wenn er nicht gelebt hätte, und was geschieht, wenn er nicht mehr ist. Wenn er nicht mehr ist, verschwindet auch eine der Verbindungen, die das Konstrukt unseres Familiendaseins zusammenhält. Es liegt an der nächsten Generation, diese Verbindung aufrechtzuerhalten.
Daher sehe ich es als meine Pflicht, mich gebührend von ihm zu verabschieden und ihn auf seinem langen Weg aus der Türkei über Deutschland in das cennet, das Paradies, zu begleiten. Das ist eine Weise, Dankbarkeit zu zeigen, denn sein Weg bereitete auch den Weg meiner Generation. Also bat ich meinen Cousin Barış, der unglücklicherweise in den letzten Jahren schon Erfahrung mit türkischen Beerdigungen gemacht hatte, um eine Anleitung für Trauerrituale unserer türkischen, schiitisch-muslimischen Community.
Am Tag ihres Todes wird die Person zunächst von gleichgeschlechtlichen Angehörigen in der Moschee der Gemeinde gewaschen. Nach dem öğlen namazı, dem Mittagsgebet, wird der Leichnam im Sarg zum öffentlichen Gebet vor der Moschee getragen. Dabei fragt der Hoca, also der Geistliche, dreimal: „Hakını helal ediyorsunuz?“. Ob die Hinterbliebenen den verstorbenen Menschen von seinen Schulden freisprechen, bedeutet diese Frage. Dreimal antworten die Angehörigen „Helal olsun“ – sie sprechen ihn frei.
Der offizielle Todestag beginnt an dem Tag der Beerdigung. Für den Fall, dass das Begräbnis an einem anderen Ort stattfindet oder der*/die* Gestorbene sogar in einem anderen Land gelebt hat, geschieht das unmittelbar nach Ankunft am Flughafen. Einige Organisationen und Moscheen stellen nämlich Kühlkammern für die Verstorbenen bereit und bringen sie per Flugzeug an ihren Geburtstort oder dorthin, wo der Mensch sein*/ihr* Leben verbracht hat und begraben werden soll.
Auf der Beerdigung wird vor der Grablegung das cenaze namazı gesprochen, das Totengebet. Dieser lautlos gesprochene Teil des Gebets enthält Rezitationen der ersten Sure des Korans al-Fatiha, Gebete für den Propheten Mohammed und zwei duas, das sind Bitt- und Dankgebete. So wird der Leichnam in ein Leinentuch gewickelt in das Grab gelegt, der Kopf blickt dabei Richtung Mekka. Dann schütten die nahen Verwandten schütten das Grab zu.
Im Anschluss beginnt die gemeinsame Trauerzeremonie: Das Ritual dauert 10 Tage und ist von einer bestimmten Tagesstruktur geprägt. An den ersten drei Tagen empfangen die Angehörigen Besuch von Gästen, die ihr Beileid aussprechen. Besonders am dritten und siebten Tag liegt der Fokus auf der gemeinsamen Mahlzeit mit Freund*innen und Gästen, das Çadır.
Für die Hinterbliebenen und ihre Gäste gibt es Gerichte aus Reis, Fleisch und Gemüse. Frauen und Männer sitzen getrennt, trinken Çay und essen Helva. Wenn man Helva isst, wird nach türkischem Aberglauben der*/die* Verstorbene im Traum wiedererscheinen. Während der Zeremonie wird die al-Fatiha-Sure immer wieder gesprochen – jedes Mal, wenn eine Person den Raum betritt oder verlässt. Die Atmosphäre ist andächtig und ruhig.
Am vierten, fünften, sechsten und neunten Tag ruhen sich die Angehörigen aus, besuchen das Grab im familiären Rahmen und beten. Der letzte Besuch des Grabes erfolgt am zehnten Tag, erst danach fahren alle wieder zurück in ihre Heimatorte oder, in meinem Fall, nach Deutschland.
Bemerkenswert ist, dass sich die Trauerbewältigung so gemeinschaftlich und solidarisch abspielt. Der Verlust eines Menschen wird nicht privatisiert, sondern es wird in der Gemeinschaft gemeinsam gegessen, geweint, gebetet und gesprochen. Es ist ein Akt des Zusammenhalts, sodass die Verbindungen auch mit dem Verlust einer Person nicht abreißen.
Wichtiger ist jedoch, dass Trauer ebenfalls ein individueller Prozess ist: Mit dem Tag des Begräbnisses beginnt ein traditioneller Zeitraum von 40 Tagen. In der Zeit rasierst oder schminkst du dich nicht, hörst keine Musik, schaust kein Fernsehen und besuchst keine Festlichkeiten. Du trauerst schließlich. Das ist keine Pflicht, aber es soll daran erinnern, der verstorbenen Person zu gedenken. Auch wenn mir eine Anleitung an die Hand gegeben wird, ist Trauer und ihre Bewältigung immer subjektiv. Jeder Mensch definiert den Verlust für sich selbst und wie er*/sie* damit umgeht.
Ich beobachte also, wie mein Dede älter und kränker wird. So schmerzhaft mir sein Verlust auch sein wird, immerhin weiß ich, dass ich begleitet werde. Und dass die Antwort auf „Allah rahmet eylesin“ – „Amin“ ist.
Text von Gonca Sağlam
Illustrationen von unserem Kooperationspartner Shutterstock.com |IlnarKarim