Auf vielen türkischen Festen darf neben Rakı eins nicht fehlen: Roman Havası. Die mitreißende Musik im 9/8-Takt und der dazugehörige Tanzstil gehören zum Programm bei Verlobungen, Hochzeiten und anderen Feiereien.
Die Verbreitung von Roman Havası ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr die türkische Kultur auch durch Romani-Kultur beeinflusst ist. Und obwohl in der Türkei gerne zu Romani-Musik getanzt wird, bekommen Romanlar-Communities nur wenig Aufmerksamkeit. Dabei stellen sie eine Minderheit dar, die jeder*r kennt, über die jedoch die meisten Menschen in der türkischen Gesellschaft kaum genaueres wissen. Sie identifizieren sich übrigens selbst als Romanlar, nicht als „Roma“.
Die Romanlar waren schon früh hoch angesehene Unterhaltungskünstler*innen: Das älteste erhaltene Dokument, das von Romani-Darsteller*innen in Anatolien und Thrakien handelt, ist aus dem Jahr 1045. In den byzantinischen Chroniken kommen sie vor als Schmied*innen, Schuster*innen, Akrobat*innen, Jongleur*innen, Schlangenbeschwörer*innen, Wahrsager*innen und Bauchredner*innen. 1315 schrieb Nikephoros Gregoras, ein byzantinischer Archivist: „Während dieser Zeit sahen wir in Konstantinopel eine durchreisende Gruppe von Leuten, nicht weniger als zwanzig an der Zahl, bewandert in bestimmten Arten der Jonglage. […] Und die Künste, die sie vorführten, waren erstaunlich und wundervoll […]“
Es gibt sie also schon lange in der Türkei, die Romanlar. Ihre Ansiedlung im Osmanischen Reich lässt sich ab dem 17. Jahrhundert belegen. Infolge des Lausanner Vertrags von 1923 kamen zudem eine halbe Million Muslime von Griechenland in die Türkei – darunter auch viele Romanlar.
Einer Hochrechnung des Europarates zufolge leben heutzutage rund 2,7 Millionen Romanlar in der Türkei , die damit die größte Romani-Gemeinde Europas bilden. Die meisten von ihnen sind offiziell Sunniten, so wie der Rest der türkischen Mehrheitsbevölkerung auch.
Die Sache mit der Identität
Laut Dr. Adrian Marsh, einem renommierten Wissenschaftler der Romani Studies, der selbst aus einer Roma-Gemeinschaft stammt, identifizieren sich die Gemeinschaften in der Türkei meist nicht als „Roma“. Und schon gar nicht mit dem herabwürdigendem Begriff „Çingene“, wie sie jedoch von der Mehrheit der Türk*innen genannt werden.
Gruppenidentitäten entstehen nicht nur dadurch, dass Mitglieder der jeweiligen Gruppen sie formen und definieren, so Marsh. Auch der Einfluss Außenstehender ist dabei maßgebend. Vor allem, weil Bezeichnungen für Minderheiten oft im akademischen Bereich geprägt werden, in dem die Mitglieder der Gruppen unterrepräsentiert sind. Bei denen, die in der Türkei als „Çingene“ bezeichnet werden, ist das auch so.
Die drei größeren Bevölkerungsgruppen, die landläufig mit dem Begriff „Çingene“ bezeichnet werden, sind Romanlar, Domlar und Lomlar. Diese Gruppen lassen sich vor allem durch ihre Dialekte unterscheiden. Es gibt keine zuverlässigen Statistiken zum Anteil der jeweiligen Gruppe.
Romanlar, Domlar und Lomlar
Schätzungen zufolge definieren sich rund achtzig Prozent dieser Menschen als Romanlar, davon leben zwischen einer und drei Millionen in der Türkei. Die Romanlar sind nicht als eine homogene Gemeinschaft zu definieren, es gibt zahlreiche Untergruppen, die sich durch Dialekt und Religion voneinander unterscheiden. Romanlar leben hauptsächlich in Westanatolien, Thrakien, in der Marmara-Region und am Ägäischen Meer. Viele von ihnen sprechen Romanje, eine Mischung aus Türkisch und Romanes.
Die ca. 100.000 türkischen Domlar leben hauptsächlich in kurdischgeprägten Regionen, teilweise sind sie noch vernetzt mit den Dom-Gemeinden in Irak und Syrien. Sie sprechen Domari, eine Sprache, die ihren Ursprung in Indien hat. Viele von ihnen leben nomadisch und arbeiten saisonal in der Landwirtschaft. Eine traditionelle Tätigkeit der Domlar ist die Zahnmedizin. Vor allem identifizieren sie sich allerdings über ihre Musik, so Marsh. Bei Hochzeiten, Beschneidungsfesten und dem kurdischen Neujahrsfest Newroz spielten Domari-Musiker früher eine wichtige Rolle. Durch die politischen Konflikte und sich verändernde wirtschaftliche Faktoren verloren die Domlar diese Sparte jedoch weitestgehend; denn viele kurdische Familien können es sich nicht mehr leisten, große Feste mit musikalischen Einlagen zu feiern.
Die Lomlar stellen die kleinste der drei Gruppen dar, sie sprechen Lomari. Schätzungen nach leben nur mehrere tausend von ihnen in der Türkei. Lom-Gemeinschaften leben in meist nomadischer Lebensweise in den Regionen um Ağrı, Ani und Kars. Auch viele von ihnen verdienen ihren Lebensunterhalt unter prekären Umstanden als Musiker*innen, durch landwirtschaftliche Arbeit oder Recycling.
Strukturelle Probleme
Innerhalb dieser drei Gruppen gibt es zahlreiche weitere Untergruppierungen, die sich in Ethnizität, Dialekt, Religion, Region und Beschäftigung unterscheiden und einander überschneiden. In den Vierteln der Romanlar, Domlar und Lomlar, leben Familien unterschiedlicher Gruppen und verschiedener sozialer und ökonomischer Schichten nebeneinander. Oft durchmischen sich die Gruppen entgegen des Klischees der Endogamie.
Die Diversität und Toleranz innerhalb der Mahalle (dt.: „Viertel“) steht in krassen Kontrast zu dem Verhältnis, in dem die türkische Mehrheitsbevölkerung zu den sogenannten „Çingene“ steht.
Das European Roma Rights Center beklagt, dass Romanlar, Domlar und Lomlar in der Türkei mit Diskriminierung beim Zugang zum Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Gesundheitssystem und Wohnungsmarkt konfrontiert sind. Zudem gibt es unter ihnen eine vergleichbar hohe Armutsquote und Arbeitslosenrate. Nur wenige besuchen eine Schule, die Wohnverhältnisse und die medizinische Versorgung sind bedenklich. Diese Faktoren führen zu einer relativ niedrigen Lebenserwartung.
Romani-Frauen befinden sich in einer besonders prekären Situation: Ein großer Teil von ihnen ist zumindest teilweise analphabetisch und hat keinen Zugang zu Arbeit mit Sozialversicherung. Hinzu kommt, dass das Heiraten in sehr jungem Alter noch immer gängiger Brauch ist.
Globalisierung vs. Tradition
Schwierigkeiten ergeben sich für Lomlar, Domlar und Romanlar auch durch die fortschreitende Globalisierung. Durch schnellen technischen Fortschritt und andere wirtschaftliche Bedingungen ist die Nachfrage für traditionell handgearbeitete Güter gesunken. Beispielhaft für diese Entwicklung stehen die Sepetçiler, die Korbflechter*innen, in Izmir. In modernen Sepetçiler-Familien arbeiten alle mit: die Materialien für die Körbe werden in Feuchtgebieten, Flussbetten und -deltas gesammelt. Einen Teil des Jahres leben die Korbflechter*innen also als Semi-Nomad*innen, den anderen Teil in städtischen Wohnungen und Häusern.
Einst integraler Bestandteil der Wirtschaft im Osmanischen Reich und in einer Zunft organisiert, leben viele von ihnen nun in einer besorgniserregenden Situation. Denn seit Plastikprodukte günstig aus Ländern wie China importiert werden können, ist die Zukunft des Handwerks der Sepetçiler in Gefahr. Sich neue Beschäftigungsfelder zu suchen, gestaltet sich für viele von ihnen schwierig, denn es mangelt an Bildung und am Willen von Firmen, Romanlar als vollwertige Arbeitskräfte anzustellen. Das führt zu Arbeitslosigkeit und Marginalisierung.
Eine unsichere Zukunft
Gibt es Aussicht auf Verbesserung ihrer Lage? Zwar bat Präsident Erdoğan 2010 bei einer Rede in Istanbul vor ca. fünfzehntausend versammelten Romanlar um Verzeihung für die andauernde Diskriminierung und kündigte an, ihre Probleme, vorallem die Wohnverhältnisse, adressieren zu wollen. Im selben Jahr ließ er den abwertenden Ausdruck „Çingene“ aus den türkischen Gesetzbüchern streichen, und schaffte daraufhin das Gesetz ab, laut dem Romanlar, die nicht gemeldet oder „der türkischen Kultur zugehörig“ waren, ausgewiesen werden konnten.
Trotzdem hat sich die Situation der Romanlar, Domlar und Lomlar in der Türkei kaum verbessert. Kritische Stimmen meinen, Erdoğan bekunde seine Solidarität mit Romanlar-Gemeinden nur, um die EU-Kommission zu beeindrucken, die den Umgang mit Minderheiten in der Türkei angeprangert hatte. So auch der Soziologe Ayhan Kaya gegenüber der Zeitung Le Monde Diplomatique: „Ohne die Hoffnung auf eine Annäherung an die EU hätte Erdogan die Roma nie auf seine Agenda gesetzt, obwohl sie Muslime sind.“
Romanlar, Domlar und Lomlar sind in der Politik unterrepräsentiert, und den türkischen Romanlar-Organisationen mangelt es an Möglichkeiten, weitreichend Einfluss zu nehmen. Und auch an der aufgrund von Bauprojekten durchgeführten Räumungen ihrer Viertel sieht man, dass die türkische Regierung es nicht ganz so ernst meint mit dem Willen zur Veränderung.
„Mein Haus stand in Sulukule“
Exemplarisch dafür steht das Viertel Sulukule in Istanbul, das als älteste Romanlar-Siedlung der Welt gilt und mitsamt seiner Geschichte und ohne Rücksicht auf vorhandene sozialen Strukturen abgerissen wurde. Die Dokumentation „Mein Haus stand in Sulukule“ erregte daraufhin Aufmerksamkeit, so auch das Engagement verschiedener Künstler*innen und Musiker*innen. Die Rapgruppe „Tahribad-ı İsyan“ aus Sulukule kritisierte die Gentrifizierung ihres Viertels in einem Song. Eine von türkischen und internationalen NGO’s unterstützte Bürgerrechtskampagne war nur wenig erfolgreich – ab 2005 wurden 3500 Menschen zwangsumgesiedelt. Die Häuser wurden abgerissen und an ihrer Stelle Luxusapartments gebaut. Den Anwohner*innen wurden unerschwingliche Ersatzwohnungen am Stadtrand angeboten, vierzig Kilometer von Sulukule entfernt.
Dabei ist Sulukule älter als Istanbul, die ersten Berichte über die dort ansässigen Romanlar sind ca. tausend Jahre alt. Und bis Mitte der Neunziger Jahre war Sulukule ein beliebtes Ausgehviertel für die Istanbuler*innen: in Kneipen und Vergnügungshäusern gab es Musik und Tanz, Meze und Raki. Die türkischen Autoritäten sahen das nicht gerne und schickten Polizeikräfte, um der Unmoral mit Gewalt Einhalt zu gebieten. Von da an ging es los mit der Verelendung der Viertels und der Verarmung der Bevölkerung. Der Monde Diplomatique zufolge sind einige Familien nach ihrer Zwangsumsiedlung nun wieder nach Sulukule zurückgekehrt und leben „unter erbärmlichen Bedingungen“.
Lage in Europa
Die Lage vieler Romanlar, Domlar und Lomlar in der Türkei ist also äußerst besorgniserregend. Und nicht nur dort, auch im Rest Europas sind Roma und Sinti oft Diskriminierung, struktureller Gewalt und Armut ausgesetzt.
Projekte wie das neugegründete RomArchive, eine digitale Sammlung mit Objekten aus Kunst, Geschichte, Politik, Literatur und Musik konzentrieren sich auf Empowerment und geben der Minderheit eine Stimme.