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Gesellschaft & Geschichten

Von der Gastarbeiterin zur Deutschtürkin TEIL 2

Teil Zwei einer Migrationsgeschichte

1973 führte die sich abzeichnende Wirtschafts- und Energiekrise zum Anwerbestopp. Die „Gastarbeiter“ wurden nun als Problem angesehen. Aber mit dem Stopp war keinesfalls das „Problem“ gelöst. Die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer*innen sank zwar, aber die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer*innen stieg an. Der Anwerbestopp verleitete viele dazu, in Deutschland zu bleiben und die alte Heimat hinter sich zu lassen. Die Fremde war nun die neue Heimat. Die einzige Verbindung zur Heimat reduzierte sich, vor allem bei Kindern der zweiten Generation. Die Türkei kannten sie nur noch vom Sommerurlaub, einmal im Jahr.

So auch Ayten Y., das älteste Kind von Hakki Y. und Emine Hanim. Sie war fünf Jahre alt, als sie als „Gastarbeiterkind“ nach Deutschland kam. Sie verließ ihre Freunde, ihre Schule. Deutschland. Sie wusste nur, dass man dort Geld verdienen könnte und es viel bessere Malstifte gebe als  in der Türkei. Angekommen in Alamanya, wurde sie sofort in der Grundschule angemeldet.

„Ayten kizim, ich deutsch sprechen sehr, sehr güzel. Du sagen mir: Anne Hilfe Hilfe Hausaufgaben, ich helfen ok? Ok!“

„Tamam Anne.“

„Nein, nein kizim, das heißen: ich verstehen, tamam?“

„Ich verstehen, Anne.“

Der erste Schultag kam. Um wie viel Uhr begann der Unterricht? Emine Hanim hatte keinen Schimmer. Punkt 6 Uhr machte sich Ayten Y., als 5-Jährige auf den Weg zur Schule. Vom einen Dorf ins nächste laufen. 30 Minuten Fußweg. Im Dunklen. Im Kalten.

„Ich nichts kennen diesen Alamanya, ist gruselig, dunkel, dunkel Alamanya diesen.“

Angekommen an der Schule, war noch niemand da. Komisch! Ayten Y. setzte sich auf die Holzbank auf dem Schulhof. Ihr Magen grummelte. Sie hatte Hunger. Eingepackt in der Tasche nur ein Apfel. Sie saß da, baumelte mit den Füßen. Kalt war es. Und der Apfel nicht genug. Sie schaute immer wieder auf die Uhr. Um 7 Uhr kam der Hausmeister, schloss die Türen auf. Endlich ins Warme. Um 8 Uhr trudelten die restlichen Kinder ein. Der Unterricht begann. Ayten Y. wurde vorgestellt:

„Guten Morgen Kinder, sagt Hallo zu eurer neuen Mitschülerin. Das ist Ayten, sie ist ein „Gastarbeiterkind“, kommt aus der Türkei und sie versteht kaum Deutsch. Also seid nett zu ihr.“

Ayten verstand nur: „Tetretterteterää!“, nickte aber freundlich. So taten das die Deutschen doch, oder? Und auf Schuhe, saubere Schuhe legten die Deutschen Wert! Ayten hatte am Abend davor mit Emine Hanim ihre Schuhe sehr sorgfältig geputzt.

„Ayten kizim, saubere Schuhe in Deutscheland bedeuten, anständige Menschen. Wir nix arme Bettler, wir Arbeiter, arbeiten hart.“

In der Klasse redeten alle so schnell und alle stellten Fragen an Ayten:

„Und woher kommst du?“

„Warum bist du hier?“

„Dein Vater ist ein Gastarbeiter oder? Solltet ihr nicht längst wieder zurück sein?“

Ayten Y. verstand wieder nur: „Tetretterteterää!“ Nickte aber immer höflich.

Emine Hanim hatte ihr drei Wörter beigebracht: Hallo, Ja und Nein.

Also antwortet Ayten immer zweimal mit Ja und einmal mit Nein. Sollte doch irgendwie passen oder?

„Du bist ein Kümmeltürke!“

„Ja.“

„Ich habe dich grade beleidigt.“

„Ja.“

„Ah das verstehst du also?“

„Nein.“

Was wollte dieser Junge?

Die Lehrerin gab Hausaufgaben auf und schrieb es an die Tafel, Ayten schrieb alles ab und der Schultag ging zu Ende.

„Anne, ich haben Hausaufgaben.“

„Was denn?“

„Deutsch, lesen ich glauben.“

„Ich nix lesen, Ayten, du wissen.“

„Aber du gesagt, du kann sprechen cok güzel deutsch.“

„Ja aber ich nix lesen.“

Gut, Ayten war anscheinend auf sich alleine gestellt.

„Kizim, ich kann helfen Mathe.“

„Tamam Anne, ich haben diesen Hausaufgaben Mathe.“

Ayten zeigte Emine Hanim die Matheaufgaben. Eine Textaufgabe.

„Ayten, kizim, ich nix können lesen ya, üfff. Was das für Mathe? Ach die Deutschen… Ich machen Essen jetzt.“

Ayten Y. realisierte schnell, die Mutter kann kein Deutsch. Sie musste sich was einfallen lassen. Und das schnell. Eine Außenseiterin, das war sie und das war ihr klar, aber sie wollte wenigstens mit den anderen Kindern reden können. Also klingelte sie bei der deutschen Nachbarin und zeigte ihre Hefte.

„Oh hallo, du bist doch das neue Gastarbeiterkind im Dorf oder?“

Was sagte sie? Ayten verstand nur Hallo.

„Hallo.“

„Du verstehst mich nicht oder?“

„Ja.“

„Naja komm rein.“

Sie wurde herzlichst begrüßt und zusammen mit Frau Krüger machte sie die Hausaufgaben und der türkische Nachbarsjunge Beytullah, der schon länger in Deutschland war, half Ayten Y. deutsch zu sprechen.

Ayten Y. bezeichnet sich heute als „Gastarbeiterkind“:

„Ja ich bin ein Gastarbeiterkind, ich bin nicht deutsch, nein. Ich habe die deutsche Kultur übernommen, ja. Aber das macht mich noch lange nicht zu einer Deutschtürkin. Oder Deutschen. Aber, wenn man mich fragt, wo ich zu Hause bin, dann antworte ich ganz klar: Deutschland. Meine Heimat, das ist die Türkei.“

Eine klare Linie kann man in der heutigen Generation nicht erkennen. Es geht um Akzeptanz und darum, als vollwertiges Mitglied anerkannt zu werden. Als Kind eines Gastarbeiterkindes aufzuwachsen und mit zwei Kulturen groß zu werden ist eine Herausforderung, aber ebenso eine große Bereicherung. Man kann sich mit vielem identifizieren, es geht nicht um türkisch oder deutsch oder ums Deutschtürke sein. Nein, es geht darum diese Bereicherung als eine solche wahrzunehmen und nicht als Last zu betrachten. Doch, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss man eine lange Identitätskrise durchleben. Lange habe ich mich mit der Definition Deutschtürke versucht zu identifizieren, ich habe vielen erzählt ich sei Deutschtürkin, aber mich immer unwohl dabei gefühlt. Ich bin weder türkisch noch bin ich wirklich deutsch. Ich bin ganz einfach Derya, die auf dem Papier deutsch ist, aber im Kopf und im Herzen beide Kulturen in sich trägt.

Neulich war ich im Bürgeramt in Kreuzberg, Mehringdamm, um mich aus Deutschland abzumelden.

„Ich hätte da noch eine wichtige Frage.“

„Ja die können Sie mir gerne stellen.“

„Also…sagen Sie, ich habe letzte Nacht geträumt, dass ich durch die Abmeldung auch all meine Papiere verliere und staatenlos bin.“

„…“

Die Bearbeiterin guckt mich an und lächelt.

„Also, ist das so?“

Sie steht von ihrem Stuhl auf und kommt zu mir, legt ihre Hand auf meine Schulter und sagt:

„Frau Türkmen, da müssen Sie sich überhaupt keine Sorgen machen. Sie sind und bleiben deutsch.“

Das war die erste positive Erfahrung, die ich je beim Amt gemacht habe und ging zum ersten Mal mit einem Lächeln aus dem Gebäude.

 

Text: Derya Türkmen

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