Die 2010er Jahre erlebten international ein Revival des anatolisch-psychedelischen Folk, Funk und Rock der 1970er Jahre und später. Alte Kassetten der Eltern werden auf YouTube millionenfach geklickt und neue Bands, die die Klassiker wieder aufleben lassen, formieren sich. Derya Yıldırım & Grup Şimşek sind eine von ihnen. Wenige Minuten vor ihrer Show in Berlin, erzählen sie uns in einem Hinterhof über ihre Musik.
„Ich würde unsere Musik nicht unbedingt als türkische Musik beschreiben, aber der Einfluss ist natürlich groß. Aber jeder von uns bringt noch etwas von den eigenen Einflüssen mit“, meint Derya, die der Band ihre Stimme leiht. Die Sängerin und Spielerin der Bağlama (Anm.d.Red.: Saiteninstrument aus der Türkei und angrenzenden Ländern) lebt in Berlin, wo sie ihr Instrument mittlerweile auch an der Universität studiert. Mit ihren Bandkolleg*innen, die verstreut in England, Frankreich, Italien oder Schweden leben, tritt sie seit 2014 gemeinsam auf.
Von Fremde und Grenzen
Genremäßig wollen sie sich nicht festlegen lassen, covern Klassiker oder bauen neue Instrumentals, wechseln von traditionellen Klängen über sanften Folk zu psychedelischem Funk. Exemplarisch für die Kombination dieser Elemente ist ihr 2017 veröffentlichtes Cover „Nem Kaldı“. Ein Song, der ihnen ein wachsendes Publikum auf ihren europaweiten Konzerten bescherte. Zu anderen bekannten Klassikern, die sie neu auflegen gehören „Gurbet“, ein Stück über die Sehnsucht in der Fremde, oder „Üç kız bir ana“ über das Schicksal einer Mutter. „Da wir seit einigen Jahren zusammenspielen, haben wir unseren eigenen Stil gefunden. Und dieser Stil ist definitiv beeinflusst von türkischer Musik. Wir versuchen aber unseren eigenen Sound zu kreieren“, meint Antonin Voyant, der Gitarre und Flöte spielt.
Songs wie Gedichte
Ihre ersten Konzerte spielten sie noch unter dem Namen Intercommunal Orchestra. „Die Texte sind immer auf Türkisch und das wird sich eigentlich auch nicht ändern“, erklärt Derya, die als einzige in der Band Türkisch spricht und die Texte für ihre Bandmitglieder frei übersetzt: „Ich erkläre die Bedeutung der Songtexte, aber oft sind sie wie Gedichte. Man kann sie nicht so einfach so übersetzen, es ist dann mehr eine Zusammenfassung der Bedeutungen oder Geschichten.“
Trotzdem wählen sie ihre gecoverten Songs gemeinsam aus, da einige von ihnen bereits zuvor türkische Musik der früheren Jahrzehnte verfolgt haben. „Es sind in erster Linie die Songs, die wir gerne hören und zu unserem Style passen“, meint Antonin. Angesprochen darauf, dass viele ihrer gecoverten Songs aus der Feder alevitischer Sänger*innen stammen, meint Derya, dass ihr das eigentlich nicht wichtig sei, betont aber dennoch die Bedeutung von legendären alevitischen Volkssängern wie Aşık Masuni Şerif, Aşık Veysel, Arıf Sağ oder Erdal Erzincan für die türkische Musikgeschichte. In Ihrem Umfeld sei es unwichtig wo jemand herkomme, erklärt sie dazu.
„Aber natürlich ist mein Hintergrund, oder der meiner Eltern, aus Şarkışla, also Sivas. Man kennt die Geschichten über das Massaker an den Aleviten, die dort lebten und wie viele Menschen die Gegend verlassen haben aufgrund von Konflikten zwischen Aleviten und Sunniten.“ Der Bezug der gewählten Stücke zur eigenen Identität scheint für sie demnach trotzdem eine Rolle zu spielen: „Ich liebe diese Songs und wenn ich sie spiele, fühle ich mich fast alevitisch, obwohl ich noch nie in einem Cemevi war (Anmerkung d. Redaktion: alevitisches Gebets- und Gemeindehaus). Ich bin in Hamburg aufgewachsen!”
Europa als Base
„Einige von uns lebten in London zum gleichen Zeitpunkt, inzwischen leben wir alle an unterschiedlichen Orten“, erklärt Bassist Andrea Piro. Trotz ihrer verschiedenen Lebensmittelpunkte, trifft die Band sich regelmäßig in verschiedenen europäischen Städten zum Proben. „Angenommen wir haben einen Gig in Frankreich, dann treffen wir uns, üben und spielen dort. Wenn es Belgien ist, dann eben dort – wir ändern den Plan jedes Mal“, meint Graham Mushnik, der Orgel spielt.
Fast immer haben sie auch Menschen im Publikum, die ihre Songs bereits kennen, meint Schlagzeugerin Gretta Eacott: „Mich hat es überrascht, dass man in irgendeiner Stadt in einem Indie-Club spielt und plötzlich hat man dort auch Leute aus der türkischen Community.” „Immer wenn wir Gigs spielen vor einem Publikum das Türkisch spricht und direkt mitsingt, ist das ein ganz anderes Gefühl”, ergänzt Graham kurz bevor sich die fünfköpfige Combo auf ihren Auftritt vorbereitet. Neben geplanten Konzerten in weiteren Städten und Ländern und ihrem ersten Konzert in Istanbul, arbeiten sie aktuell an ihrem ersten Album.
Wie Blitz und Donner
Zwischen Konzerten in Portugal und Polen spielen sie an diesem Abend im silent Green Kulturquartier, einem umgebauten ehemaligen Krematorium im Berliner Wedding. Angesprochen vom Sound der Band füllen sich der Garten und Konzertsaal mit Berliner Hipstertum, das vorsichtig mitnickt bis hin zu deutsch-türkischen Mitzwanziger*innen oder mitsingenden türkischen Frauen in ihren 50ern. Yıldırım und Şimşek, im Türkischen zwei geläufige Nachnamen, kann man frei mit Blitz und Donner übersetzen. Und ein eben solches Spektakel präsentiert die Band an diesem Abend. Zeitlose Texte, Wah-Wah-Pedal und Orgel verleihen den Songs etwas Archaisches – und dennoch schafft die Band mit ihrem Sound etwas Neues. Wenn melancholisch-poetische bis tanzbare Stücke mit elektrisch verzerrter Bağlama durch den Saal schallen, ist man dankbar, dass die Band diese Stücke mit Deryas eingängiger Stimme wieder zum Leben erweckt.
Derya Yıldırım & Grup Şimşek Single „Oy Oy Emine“ (VÖ 14. Dezemeber 2018) erscheint bei Bongo Joe Records.