Petite Istanbul –Zwischen Croissant und Baklava

Ein Spaziergang durch das türkische Viertel von Paris

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Türkische Viertel bekommen oft den Beinamen „Klein Istanbul“. So ist es auch in Frankreich: „Petite Istanbul“ oder „Petite Turquie“ nennt man das türkische Viertel im zehnten Arrondissement von Paris. Wenn ich es bei Google Maps eingebe, erscheint ein kleines Viereck.

Genau in dieses Viereck mache ich einen Ausflug und suche nach der kleinen Türkei. Doch sie ist nicht so einfach zu finden.

Wo sind denn hier die Dönerbuden?

Es ist Samstagmittag, Anfang Februar, und ich steige an der Station Strasbourg Saint-Denis aus der Metro. Der Schnee vom Vortag schmilzt in der Mittagssonne und tropft von den Markisen der Cafés. Ich befinde mich auf dem riesigen Boulevard de Bonne Nouvelle und blicke mich orientierungslos um. Wo sind die Dönerbuden?

Auf den ersten Blick sehe ich typische cremefarbende Altbauten, typische Pariser Cafés und Bistros: alles sehr „typisch“ Paris.

Hinter dem Triumphbogen Porte Saint-Denis wird es dann doch ein bisschen „türkischer“. Ein paar Dönerläden, ein paar Gemüsehändler und Restaurants reihen sich an den Straßenseiten, doch so richtig nach „kleiner Türkei“ sieht es hier nicht aus. Ich spaziere die Straße entlang und ein paar Zweifel kommen mir dann doch: Bin ich wirklich im türkischen Viertel? Die „kleine Türkei“ hatte ich mir ein bisschen anders vorgestellt. Kein Vergleich zur Berliner Karl-Marx-Straße.
Baklava für das „Türkei-Feeling“

Baklava für das „Türkei-Feeling“

Ich biege wahllos in eine Seitenstraße ab und denke: Vielleicht erstmal was essen. Ich setze mich ein kleines Restaurant und bestelle Gözleme, Teigfladen mit Spinat. Meine Tischnachbarn sprechen türkisch und stochern mit den Gabeln auf ihrem Dönerteller rum. An der Tür sitzt ein alter Mann und trinkt schwarzen Tee aus einem tulpenförmigen Teeglas.

Ich bestelle mir zum Nachtisch Baklava, um endlich in „Türkei-Stimmung“ zu kommen. Doch die Portion liegt mir dann eher schwer im Magen, als dass sie mir einen Wink gibt.
Ich bezahle am Tresen und frage die Kellnerin zögerlich: „Bin ich hier richtig? Ist das hier wirklich Petite Istanbul?“ – „Ja,“ antwortet sie lachend.

„Geh einfach die Straße lang, dann wirst du sehen, dass hier die kleine Türkei ist.“

Aha. Immerhin bin ich nicht in der völlig falschen Ecke von Paris gelandet. Ich gehe also dieselbe Straße wieder hoch, durch die ich gekommen bin, und blicke mich diesmal noch aufmerksamer um. Vielleicht habe ich etwas übersehen?

Ich sehe Menschen, die vor den Cafés sitzen, Espresso oder Wein trinken und Zigaretten rauchen. Ich sehe Dönerläden, Asia-Imbisse, einen Cookies-Laden, eine Fromagerie, Bio-Burgerläden, Patisserien… Dann bin ich wieder am Triumphbogen angekommen und biege noch einmal wahllos in eine Seitenstraße ein. Irgendetwas Besonderes muss es doch hier geben. Irgendetwas, was ich suche, muss doch hier zu finden sein. Doch was suche ich eigentlich?

Auf einen Çay im türkischen Buchladen

Nun stehe ich vor einem türkischen Buchladen, „Mevlana“ steht über dem Eingang. Ohne nachzudenken öffne ich die Tür und betrete das Geschäft. Der Laden ist klein und Bücher reihen, stapeln und türmen sich an allen Seiten. Dazwischen stehen türkische Souvenirs, Cezve-Kännchen und tanzende Derwisch-Figuren.


Ich schaue mir die Buchrücken an, aber alle Titel sind auf Türkisch, sodass meine bescheidenen Sprachkenntnisse nicht ausreichen. Der Verkäufer sucht gerade für einen Kunden Wörterbücher in einem Regal, während ich möglichst interessiert wirkend an den Bücherreihen entlanggehe. Nachdem der Kunde bezahlt hat und den Laden verlässt, wendet sich der Verkäufer mir zu. Er wirkt noch sehr jung, ist vielleicht um die achtzehn Jahre alt.
„Gibt es hier auch Bücher auf Französisch?“, ist die erste Frage, die mir einfällt. „Äh, ja. Was denn? Orhan Pamuk?“, fragt er und schaut suchend über die Bücherreihen. „Ja, ok“, sage ich und fühle mich unweigerlich in eine Schublade gesteckt.

Während er fieberhaft anfängt, in den Regalen zu wühlen, frage ich nebenbei: „Kannst du mir vielleicht etwas über das Viertel erzählen? Warum nennt man es Petite Istanbul? Ich komme aus Berlin und…“
Spätestens bei dem Wort Berlin wird er hellhörig. „Berlin? Ich bereite mich gerade auf ein Auslandssemester in Deutschland vor! Berlin ist mein Traum!“ Und so sitze ich plötzlich im Hinterzimmer der Buchhandlung an einem kleinen runden Tisch und trinke schwarzen Tee aus einem Teeglas mit rosa Rosenmuster.

Murat heißt mein Gesprächspartner. Er ist in Izmir geboren, in Paris aufgewachsen, studiert Turkologie und träumt von Deutschland. In der Buchhandlung arbeitet er als Aushilfe. Der Besitzer ist ein Familienfreund, der aber an diesem Tag nicht da ist. Deswegen darf ich leider auch keine Fotos machen. Immerhin erfahre ich aber, warum das Viertel Petite Istanbul heißt.

Die Textilhändler von Petite Istanbul

Murat erzählt, dass früher vor allem türkische Textilhändler in diesem Viertel lebten und ihre Geschäfte betrieben. Denn auch nach Frankreich kamen in den 60er und 70er Jahren zahlreiche Gastarbeiter. Heute leben knapp eine Millionen Türken in Frankreich; in Deutschland sind es zum Vergleich ungefähr 3,5 Millionen.
Doch die meisten seien irgendwann aus dem Viertel in die Randgebiete von Paris fortgezogen, erklärt Murat. Viele alte Geschäfte sind mittlerweile geschlossen. Die Textilhändler scheinen hier mittlerweile ganz verschwunden zu sein.

Murat muss immer wieder aufstehen, wenn die Ladenglocke läutet und ein Kunde kommt. Später betreten zwei Mädchen das Hinterzimmer und schauen mich ein bisschen argwöhnisch an. Doch auch wir finden schnell ins Gespräch. Es sind Murats Schwester und Cousine. Während wir noch einmal das Teezimmer verlassen müssen, weil ein paar Kunden es kurz zum Beten nutzen, vergeht der Nachmittag doch unmerklich schnell. Murat kocht neuen Tee und wir sprechen schon lange nicht mehr über Petite Istanbul. Ich erzähle von Berlin, sie über Izmir und Paris. Irgendwann gehen die Themen über Atatürk zu Erdoğan und zur deutschen Politik. Mit einem Blick auf die Uhr verabschiede mich am frühen Abend von der kleinen Teerunde. Beim Hinausgehen fallen Murat wieder die Orhan Pamuk-Bücher ein, doch er findet sie auch diesmal nicht.


Als ich später in der Metro meine bescheidene Fotosammlung des Tages auf meiner Kamera anschaue, beschließe ich, am folgenden Sonntagvormittag noch einmal hierherzufahren.

Petite Istanbul ist Vergangenheit

Der Sonntag ist ein wenig grauer und natürlich sind mehr Geschäfte geschlossen. Ich bin diesmal ein bisschen mutiger und spreche mit den Dönerverkäufern und den Menschen vor den Geschäften. Viele Ladenbesitzer und Mitarbeiter sind Kurden und sagen mir nur: keine Fotos. Einer gibt mir den Tipp: „Geh die Straße runter zum ‚Istanbul Grill’. Vielleicht möchten die mit dir sprechen.“


Also gehe ich zu diesem Restaurant und werde mit offenen Armen vom Restaurantchef Samuel empfangen. Natürlich dürfe ich alles fotografieren, seine Mitarbeiter miteingeschlossen. Oder mit anderen Worten: Natürlich darf ich Gratis-Werbung machen. Immerhin versuche ich Samuel noch ein paar Fragen zu stellen, und der gebürtige Istanbuler erzählt mir, dass er das Restaurant vor einigen Jahren übernommen habe. Und das Viertel hier

„Das Viertel hat sich verändert“, sagt Samuel. „Früher war es mal Petite Istanbul.“

Das habe ich mittlerweile auch gemerkt. Ich gehe noch kurz in das Café „Monsieur Baba“ auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ein hipper Hippie-Hipster-Laden, oder wie immer man ihn auch nennen mag. „Warum der Name ‚Monsieur Baba’?“, frage ich dort die Kellnerin, die an der Theke die Gläser abtrocknet. „Ach, nur wegen des Viertels und seines Rufs. Hat sonst keine Bedeutung“, antwortet sie knapp. Unter der Decke leuchtet in grellen Leuchtstoffröhren „Baba“, das türkische Wort für „Vater“ oder „Papa“, und auf den Regalen türmen sich Eiffeltürme.

 

Ein bisschen Döner, ein bisschen Fromage

Auf meinem Weg zur Metro laufe ich noch einmal im Zickzack durch die Seitenstraßen. Vielleicht ist ja das das Petite Istanbul von heute: eine Melange, eine Mischung aus alt und neu, verschiedener Kulturen und Menschen.

Ein bisschen Döner, ein bisschen Fromage, Espresso und schwarzer Tee, Baklava und Croissant.

Das Café Napoléon neben der Kebab-Box, der Bio-Burger neben dem türkischen Gemüsehändler. Während „Istanbul Grill“ ein bisschen Istanbuler Postkarten-Feeling nach Paris bringen möchte, assimiliert „Monsieur Baba“ das Gestern und Heute. Die Kategorien werden in den Zentren der Metropolen überflüssig.


Ich kann natürlich auch durch die Brille der Gentrifizierung sehen und an allen Ecken Verdrängung beobachten. Ich kann soziale Probleme erahnen, vielleicht auch Parallelgesellschaften und Armut in den schäbigen Seitengassen.

Auch Hipsterkultur, Pariser Bohème und gutbürgerliche Dekadenz findet man zwischen Asia-Imbiss, Dönerbude und Afro-Shop.

Doch ich versuche alle Brillen abzunehmen und meinen Blick über das Ganze schweifen zu lassen. Durch meinem Spaziergang wollte ich nur einen Eindruck bekommen, ein bisschen die Atmosphäre spüren. Ich denke an die nette Teerunde im Buchladen, das viel zu süße Baklava und das ganze bunte Getümmel. Nebeneinander und Durcheinander.

Ein bisschen von allem, ein bisschen Melange.

 

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