Neue Nachbarn

Niemand ist frei von Vorurteilen, auch nicht Kinder.

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Niemand ist frei von Vorurteilen, auch nicht Kinder. Unser Kolumnist erinnert sich an Ereignisse aus seiner Jugend und stellt sich vergangenen Ressentiments.

Anfang der 80’er Jahre wohnte ich mit meiner Familie im Istanbuler Bezirk Güngören. Es gab noch kein Internet, kein Facebook und kein Instagram. Die einzige Möglichkeit, etwas über das Leben von unbekannten Menschen herauszufinden war ihre Möbel zu inspizieren, vorzugsweise solche, die aus einem Umzugswagen herein- oder herausgetragen wurden. Dementsprechend groß war die Aufregung, als eines Tages ein solcher LKW, in unsere Straße einbog und genau vor unserem Wohnhaus parkte.

Immer wenn das passierte traten unsere Mütter ans Fenster und begutachteten den Hausrat der Neuankömmlinge mit besonderer Aufmerksamkeit und kommentierten: “Ihre Teppiche sind aber besonders häßlich“, “Wer hat denn heutzutage noch eine Glasvitrine?“, “Oh, haben die etwa eine Waschmaschine?“ oder “Das Sofa ist aber altbacken!“ und freuten sich insgeheim, dass ihnen die Möbel so gar nicht gefielen.

Das nachbarlichen Getratsche an den Fenstern von damals war unsere Version von Facebook Kommentaren.

Güngören
Der Istanbuler Bezirk Güngören Ende der Achtziger Jahre.

Der Traum von der Farbglotze

Getrieben von kindlicher Neugierde beobachteten wir also die Möbel „der anderen“. Ihre Habseligkeiten waren scheinbar so assi, dass die Teyzes in unserem Wohnhaus vor Freude nur so strahlten. Erst im vorigen Jahr, als die Almancıs, also die Deutschländer in die Nummer 2 zogen (eigentlich kamen sie aus der Schweiz, aber jeder der im Ausland wohnte, war für uns ein Almancı) war die Stimmung noch getrübt.

Eine der Nachbarinnen meldete meiner Mutter – die als luxuriösestes Hausutensil einen Staubsauger mit Stoffbeutel ihr eigen nennen durfte – “sie haben sogar einen Farbfernseher, meine Liebe“. Als ich das hörte, freute ich mich mega über Nachbarn, bei denen man während des Besuchs Farbfernseher glotzen konnte. Aber die Töchter der Almancis verprügelten mich gleich in der ersten Woche und mein Traum war damit ausgeträumt.

Seltsamer als Deutschländer-Nachbarn

Im Gegensatz zu unseren Müttern, checkten wir als erstes, ob die neuen Nachbarn Kinder hatten. Hüseyin sah ich zum ersten Mal dort. Wie ein richtiger Mann trug er eine große Tüte. Nachdem er die Tüte in der neuen Wohnung abgestellt hatte, fragte ihn mein bester Freund Ceyhun “Seid ihr in die Wohnung Nummer Zehn gezogen?“ und Hüseyin antwortete “Ja, in die Zehn“. Von da an wussten wir, das wird nichts.

Hüseyin sprach sogar noch seltsamer als die meisten Almancıs. Der Sohn des Kochs von Gegenüber äffte ihn nach und wir lachten, das verärgerte den Neuen. Gerade als er uns antworten wollte, rief ihm seine Mutter in einer für uns vollkommen unverständlichen Sprache etwas zu. Hüseyin lief zu seiner Mutter, packte die nächste Tüte und ging, ohne uns eines Blickes zu würdigen, weiter nach oben in seine neue Wohnung. Wir waren baff.

Doch keine Araber

Nachbarn
Das sind sie also, die Anderen.

Sinan war zwei Jahre älter und flüsterte “die sprechen Arabisch“. Ceyhun antwortete: “Ibo Abi doch auch.“ Die Mutter von Ibo Abi war die Enkelin einer Schwarzen, die während der osmanischen Herrschaft aus dem Sudan gekommen war. Auch wenn Ibos Papa aus Rize an der Schwarzmeerküste stammt, war Ibo eben schwarz. Und wir dachten, dass alle Schwarzen in der Türkei Araber seien, die ja nichts anderes als arabisch sprechen mussten. Erst viel später verstand ich, dass weder Ibo Abi noch unsere neuen Nachbarn Araber waren.

Zu dieser Zeit liefen jeden Sonntag Westernfilme im Fernsehen, denen wir aufgeregt entgegenfieberten. Meist schauten wir diese auf unseren schwarzweiss Fernsehgeräten – manchmal aber auf einem 56 Zoll-Bildschirm der Marke Blaupunkt, wenn wir es schafften Onkel Sadik aus Apartment 5 auszutricksen – und flitzten anschließend auf die Straße, um die Szenen aus den Cowboystreifen nachzuspielen.

Hüseyin und die Wilden

Das Problem: Niemand wollte Indianer sein. Kein Wunder, die Filme wollten uns weiß machen, sie seien unzivilisierte Wilde, die in Unterhosen herumlaufen und unschuldige Frauen entführen. Wir besetzten die Rolle notgedrungen mit Iso wegen seiner dunklen Hautfarbe. Und weil in den Filmen die Indianer immer in Gruppen auftraten, musste immer noch das ein oder andere Kind zu Iso hinzugeschoben werden.

Als wir am ersten Sonntag nach Hüseyins Einzug wieder auf die Straße rannten, sahen wir ihn allein auf der Bordsteinkante sitzen. Der erste, der es bemerkte, war Iso.

“Hüseyin sollte auch ein Indianer sein“, sagte er. Hüseyin war noch dunkelhäutiger als Iso und seltsamerweise freute er sich über das Angebot.

Hulu-Lu-Lu rufend stürzte er gemeinsam mit Iso auf uns zu und spielte seine Rolle ziemlich gut. Obwohl er die Filme nicht kannte, ließen sich beide ziemlich überzeugend zu Boden Fallen, wenn wir aus unseren Fantasie-Revolvern feuerten.

Unser neuer Freund Hüseyin begann sein Leben in unserer Straße als Indianer und führte es als Torhüter beim Fußball und als Blinde Kuh im Versteckspiel fort. Wenn wir abzählten, war Hüseyin immer derjenige, der als Letzter übrig blieb. Wir hatten alle einen besten Freund, aber Hüseyin blieb allein. Unsere Mütter sahen sich hin und wieder, nur bei Hüseyins Familie klopfte niemand an die Tür. Sie konnten nämlich kein Türkisch. Hüseyin war der einzige in der Familie, der Türkisch sprach und wir machten uns ständig lustig über seine Aussprache. Jahre später sollte ich mich an diese Ereignisse erinnern.

Just in dem Moment als ich gerade darüber nachdachte, bisher niemanden diskriminiert zu haben, fiel mir ein wie wir das Romakind Iso und den Kurden Hüseyin zu “Anderen“ gemacht hatten.

Genauso wie wir während der Pubertät uns über Jungs lustig machten, die mehr mit Mädchen abhingen oder wir Kinder wegen ihres Aussehens, ihrer Herkunft, ihrem Dialekt, ihrer Kleidung und der Musik, die sie hörten, verurteilten.

Ich schämte mich sehr für mein Verhalten. Doch als ich mich meinem diskriminierenden Verhalten und Vorurteilen stellte, dachte ich auch, dass sich Menschen ändern können. Heutzutage, wo der Hass einiger wenige als ihr “Recht auf Verabscheuung“ propagiert wird – als wäre es nur ein Gericht auf der Menükarte, ein Film im Kino oder ein Gemüse auf dem Wochenmarkt – gefiel mir die Möglichkeit, dass auch andere es schaffen könnten, sich frei von Hass zu machen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf taz.gazete.

Autor: Bayris Uygur, aus dem Türkischen von Ebru Taşdemir

Fotos: taz.gazete, Wikimedia Commons

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