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Gesellschaft & Geschichten

Die Luft, die wir brauchen

Ein Kloß sitzt uns seit Jahren im Hals. Ein Kloß, der uns daran hindert, einmal tief Luft ein- und auszuatmen. Luft, die wir brauchen.

Luft, die befreien könnte; befreien von der Zerbrechlichkeit, die uns beim Betrachten von Enver Şimşeks Bild einnimmt; befreien von der erdrückenden Wirkung der Bilder aus der Keupstraße nach dem Nagelbombenanschlag. Sie würde uns vielleicht Kraft geben, wenn wir Ismail Yozgat dabei zuhören, wie er darüber erzählt, welchen Schmerz ein Vater empfindet, wenn er seinen Sohn in einer Blutlache liegen sieht; sie würde uns vielleicht dabei helfen, Mevlüde Gençs Großherzigkeit zu verstehen, die beim Brandanschlag in Solingen zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte verloren hat und uns dennoch folgendes Vermächtnis mitgibt: „Lasst uns als Geschwister leben!“.

Vielleicht würde sie uns auch dabei helfen, wieder in Moscheen, Synagogen und Shisha-Bars gehen zu können, ohne dabei an Christchurch, Halle und Hanau zu denken. Auch wenn sie nichts davon wird ungeschehen machen können, wird sie uns möglicherweise in unserem Durchhaltevermögen und in unserem Glauben daran, dass diese Taten irgendwann enden werden, stärken.

Aber diese Luft wird uns verwehrt.

Sie wird uns verwehrt durch die nie enden wollende Mär des geistig verwirrten Einzeltäters; verwehrt durch die menschenverachtende Berichterstattung, wenn von „Döner-Morden“ die Rede ist; sie wird uns verwehrt durch die unzureichende Aufarbeitung der NSU-Terrorserie; verwehrt durch unsere unglaubliche Gewöhnungsfähigkeit, die uns schon ein paar Tage nach „fassungslos“ machenden, „grausamen“ und „unmenschlichen“ „Gewaltverbrechen“ einnimmt.

Uns wird die Luft zum Atmen genommen, wenn es salonfähig wird, in aller Öffentlichkeit den Nationalsozialismus als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ zu bezeichnen, von „Kümmeltürken“ zu sprechen oder eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ zu verlangen. Es ist die Angst, die uns die Kehle zuschnürt, wenn wir nach jedem Attentat an unsere Liebsten denken und uns nicht vorstellen wollen, dass es auch sie, auch uns treffen könnte. Es ist die Wut, der Zorn und es sind die Tränen, die uns im Hals stecken. Wir wollen schreien, in der Hoffnung, dass sich dieser Knoten löst und wir wieder atmen können. Wir versuchen es, kriegen aber keinen Ton raus.

Dennoch werde ich mich nicht zurückziehen, ich werde nicht resignieren, ich werde nicht hassen.

Im Gegenteil: Ich werde meine Eltern, Brüder und Freund*innen umarmen; meine Großeltern anrufen und meine ältere Nachbarin besuchen. Im Sommer werde ich mich auf die Wiese im Park legen, das Blau des Himmels und das Grün der Bäume tief in mich ziehen und in voller Dankbarkeit dieses Leben und jedes Stück seiner Freiheit leben!

Und ich werde nicht vergessen, niemals! Ich werde die Bilder und Namen der Opfer in mir tragen. Schon bei jedem Witz auf Kosten von Minderheiten werde ich meine Stimme erheben. Ich werde die Würde eines jeden, einer jeden Einzelnen hochhalten und für sie kämpfen. Ich werde mich in die Debatte einbringen, zuhören, meine Meinung äußern und streiten – für mehr Menschlichkeit. Ich werde den Streit in der freien Debatte genießen, ihn feiern, ihn lieben! Denn ich weiß: Auch ich trage „ein Stück Deutschland“ in meinen Händen.

Text: Azim Semizoğlu

Titelbild: Shutterstock

 

1 Mevlüde Genç, Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag des Brandanschlages in Solingen, 29.5.2018.
2 Diese Metapher verwendete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache 2019: „Sie alle haben ein Stück Deutschland in Ihrer Hand!“, 25.12.2019.

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