Türkische Erziehung in Deutschland geht anders. Vor allem, wenn die eigenen Eltern zur ersten Generation von Gastarbeitern gehören und ihre eigenen kulturellen Werte und Traditionen in das unbekannte „Almanya“ mitbringen. Kommt ihr Kind auch noch auf eine Grundschule, die nur von deutschen Schülern besucht wird, prallen Gegensätze aufeinander.
So, wie es bei mir in der Kindheit war: Geboren und aufgewachsen in Berlin-Schöneberg und fast nur deutsche Freunde. Da haben sich im Laufe der Grundschuljahre Unterschiede zwischen einer deutschen und einer türkischen Familie bemerkbar gemacht. Meine Eltern, die nichts über deutsche Gepflogenheiten wussten, haben sich tapfer geschlagen und waren immer interessiert daran, wie es bei den Deutschen so lief. Schlussendlich kann ich sagen, dass aus mir -trotz langer Fernsehabende als Kind- doch etwas geworden ist.
Kosenamen
Meine deutschen Freundinnen hatten Kosenamen wie „Mein Mäuschen“ oder „Häschen“. Ich fand das als kleines Kind so süß, dass ich auch so genannt werden wollte. Doch auf Türkisch klingen die Übersetzungen komisch: „fareciĝim“ oder „tavşancıĝım“. Außerdem konnte meine Mutter es nicht nachvollziehen, wieso sie mich mit solchen Tieren vergleichen sollte. Sie sagte viel lieber „ceylan“ (Rehkitz) oder wenn sie sauer auf mich war „eşek“ (Esel).
Regeln
Für meine deutschen Freundinnen in der Grundschule war beispielsweise Punkt 19 Uhr Schlafenszeit. Da gab es auch nie Ausnahmen. Das war für mich immer viel zu früh und ich fand das seltsam. Meine Eltern haben zwar immer darauf geachtet, dass ich nie zu spät im Bett war, aber so streng waren sie nicht. Außerdem habe ich nie verstanden, was dieser Hausarrest sollte. Nur, weil Mitschüler schlechte Noten nach Hause brachten, wurden sie bestraft. So etwas musste ich glücklicherweise nie erleben.
Essen
Immer wenn ich bei meinen Freundinnen spielen war, achtete meine Mutter darauf, dass ich vorher zu Hause etwas aß. Denn meistens hungerte ich bei der deutschen Familie. Entweder gab es Eintopf oder das Gericht roch eigenartig. Außerdem mussten die Kinder nur soviel essen, bis sie satt waren. Bei mir zu Hause hieß es immer: „Yemeĝini bitir, arkandan aĝalar yoksa.“ Zu Deutsch: „Iss dein Essen auf, sonst weint es hinter dir her.“
Kleidung
Wenn ich mir alte Fotos aus meiner Grundschulzeit anschaue, sehe ich aus, als wäre ich jeden Tag auf einer türkischen Hochzeit gewesen. Als Kind suchte meine Mutter mir stets bunte und glitzernde Kleider aus. Ich sah immer aus wie eine verkleidete Prinzessin. Die Klamotten meiner deutschen Freunde stammten meist entweder von Humana oder aus Öko-Läden. Außerdem musste ich stets weiße Unterhemden („atlet“) tragen, meine deutschen Freunde nicht.
Klassenfahrten
Ich bin meinen Eltern echt dankbar, dass ich an allen Klassenausflügen teilnehmen konnte. Ich kenne leider auch Beispiele, bei denen das nicht so war. In einigen türkischen Familien durften die Mädchen grundsätzlich nie bei Klassenfahrten dabei sein. Die deutschen Kinder hatten kleinere Koffer, meiner hingegen war immer so voll, als würde ich für sechs Wochen in die Türkei reisen.
Reisen
Ich habe die Tage nach den Schulferien gehasst. Auf die Frage der Lehrerin „Wo habt ihr eure Ferien verbracht?“ gab ich immer die gleiche Antwort: „In der Türkei.“ Die Deutschen verreisten nach Spanien, in die USA oder sonst wohin. Meine Eltern aber hielten es für sehr wichtig, dass ich ihre Heimatstadt kennenlerne. Im Nachhinein denke ich, dass sie Recht hatten. Zum Reisen in andere Länder habe ich schließlich jetzt die Zeit und ich muss gestehen, dass es mich immer noch mindestens einmal im Jahr in die Türkei zieht.
Talismane
Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand aus meinem deutschen Freundeskreis bestimmte Talismane mit sich herum trug. Ich hatte immer ein nazar boncuk (blaues Auge) an meiner Kette oder am Arm. Wenn ich mir alte Sommerfotos anschaue, entdecke ich auch ein muska (dreieckiger Talisman mit Gebet), der an meinem Unterhemd mit einer Sicherheitsnadel angebracht ist. Mittlerweile hängen sie bei mir im Auto.
Frühe Verantwortung
Ich bin froh darüber, dass meine Mutter mir früh beigebracht hat, dass ich mich um meine eigenen Sachen kümmern soll. Das lag auch daran, dass ihr Deutsch unzureichend war und ich als kleines Kind viel übersetzen musste. Manchmal wurde mir das zu viel, weil ich mich mit irgendwelchem Erwachsenen-Bürokratie-Zeugs herumschlagen musste, wovon ich als kleines Mädchen keine Ahnung hatte. Meine deutschen Freunde wussten meist gar nicht, wovon ich redete. Ich wusste bereits als Kind, wie man Steuerbescheinigungen ausfüllt oder wie ein Gabelstapler funktioniert. Ich musste schließlich eine komplette Bedienungsanleitung übersetzen.
Kinderspiele
Gott sei Dank hatte ich eine Kindheit ohne Smartphones! Ich habe draußen gespielt. Aber meine Mutter achtete stets darauf, dass ich mich nicht schmutzig machte. Während meine deutschen Freunde beispielsweise im Matsch herumtobten, schüttelte meine Mutter bereits den Kopf. Ihr Sauberkeitsfimmel hat mir so manches Spiel verdorben.
Fernsehen
Fernsehen ist in türkischen Familien erlaubt. Ich durfte immer fernsehen. Ich habe es geliebt und kenne alle Western-Filme, die ich mir mit meinem Vater anschauen durfte, und jede Trickserie, die bei RTL 2 lief. Selbstverständlich haben meine Eltern darauf geachtet, was ich mir anschaute. Meine deutschen Freunde beneideten mich darum. Meine Eltern waren der Meinung, die deutschen Sendungen würden mir helfen, mein Deutsch zu verbessern. Geschadet hat es jedenfalls nicht.
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