Kastanien im Feuer

IN ERINNERUNG AN DIE VERBRANNTEN, VERLEUMDETEN UND VERGESSENEN IN SOLINGEN

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ZUM 29. JAHRESTAG DES SOLINGER BRANDANSCHLAGS AM 28.05-29.05.1993

Artikel 1 des Grundgesetzes der BRD garantiert, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Doch dieses demokratische Wertprinzip hat uns am 29.05.1993 vor Augen geführt, dass es antastbar war. Das Grundgesetz ist in der Nacht vom 28.05. zum 29.05.1993 in Solingen friedlich schlafend außer Kraft gesetzt worden. Dabei vertraute man naiv dem Fortschrittsgedanken der Verfassung und doch starben fünf junge Menschen in den Flammen.  

Es ist ein sonniger Tag in der Innenstadt, die Menschen genießen nach dunklen Monaten ihre Freiheit mit lauten Gelächtern, glücklichen Gesichtern und unbeschwerter Zufriedenheit. Es ist, als würde das Leben mit jedem Sommer von neu beginnen. Keine drei Kilometer weiter ist die Zeit allerdings stehen geblieben. Zu spüren sind tiefe Trauer und schwere Wolken in den Herzen. Fünf Kastanienbäume blicken auf die Menschen runter. Sie wurden als Andenken an die Opfer an den Ort gepflanzt, wo einst das liebevolle Zuhause der Familie Genc stand. Wenn man aufmerksam genug ist, hört man die Blätter weinen. Mit jedem vergangenen Jahr scheinen sie leiser zu weinen, verwurzelt in einem Boden voller Asche und Staub. Zwischen Krawatten und Anzügen lausche ich dem leisen Weinen der Blätter. Inmitten der Tränen fallen zeitgleich schlaue Wörter aus schlauen Mündern, denen ich nur schwer folgen kann. Die Fenster der Nachbarn bleiben geschlossen sowie ihre Türen. Es sind von Jahr zu Jahr dieselben Bilder, Szenarien und Reden, die sich am Gedenktag zum Solinger Brandanschlag abspielen.

Schon lange hat man aufgegeben, nach dem Warum zu fragen. Warum mussten fünf junge Menschen dem Hass zum Opfer fallen? Warum mussten fünf junge Menschen uns so früh verlassen? Warum mussten fünf junge Menschen mit ihrem Leben bezahlen? Warum mussten fünf junge Menschen in den Flammen verbrennen? Dabei ist die rasche Begründung „Hass auf Menschen“ nicht die einzige Antwort, sondern eher ein Symptom vom Gegenteil der Nächstenliebe – nämlich der Gleichgültigkeit und Ignoranz.

Gleichgültig waren die Menschen damals – blind vertraut haben die Liebenden und ignorant waren unsere politischen Eliten.

Die fünf Menschen waren wie uneingeladene Gäste in diesem Land und genauso wurden sie auch behandelt, bis sie uns am 29.05.1993 auf tragische Weise verließen. 13 Jahre später, im Jahre 2005, bekamen die anderen ungewollten Gäste dieses Landes mit dem „Zuwanderungsgesetz“ offiziell die verspätete Willkommensgeste, denn das Land mit seiner tragischen Vergangenheit bezeichnete sich nun als „Einwanderungsland“. Nachdem sie nun 60 Jahre lang fester Teil dieser Gesellschaft waren, hieß man sie endlich „offiziell“ willkommen. Dabei hat es erschreckend viel Zeit und Mühe gekostet, um diese neu gewonnene „Errungenschaft“ und die damit verbundene Verantwortung & das Pflichtbewusstsein „die Gäste zu schützen“, rückblickend in die deutsche Migrationsgeschichte, zelebrieren zu können.

In Flammen sterben – Keine Einzelfälle in Deutschland

An ihrem 25. Geburtstag verbrannte sich Semra Ertan aus Protest gegen Rassismus in Hamburg auf offener Straße. Das war am 25. Mai 1982. Auch damals waren ihre Mitmenschen alles andere als nett zu ihr – man schaute sie mit einem weißen Blick an, musterten sie mit einer Deutungshoheit von oben nach unten und nannten sie „Ausländer“. 11 Jahre später, im Jahre 1993, wurden fünf weitere unschuldige Menschen aus dem Leben gerissen und verbrannt. Dieses Mal war es kein Protest, sondern ein gewaltbereiter Menschenhass, der zum Mord an Gürsün Ince, Hatice Genc, Gülüstan Öztürk, Hülya Genc, Şaime Genc geführt hat. Diese schreckliche Gräueltat wurde von jungen Neonazis begannen.

Kein Jahr vor dem Solinger Brandanschlag kamen tragischerweise drei weitere Menschen mit Migrationsgeschichte aus der Türkei 1992 in Mölln ums Leben. Auch ihre Häuser setze man in Flammen. Sogar 1991 erinnern wir uns an die rassistischen Übergriffe auf Geflüchteten- und Vertragsarbeiterunterkünfte in Hoyerswerda zurück. Was nach Hoyerswerda, Mölln und Solingen folgt, sind keine Einzelfälle. Zahlreiche Moscheen, Synagogen sowie Läden und Häuser von Migrant:innen und BIPoC wurden durch Brandanschläge angegriffen. Noch kürzlich wurde in Solingen versucht, eine Geflüchtetenunterkunft in Brand zu setzen. Wenige Monate später warfen zwei Jugendliche ein Molotowcocktail auf die Terrasse einer Familie mit Migrationsgeschichte. Für Aufregung hat es in der Klingenstadt nicht gesorgt. Was blieb, war das unsichere und ängstliche Gefühl der BIPoC sowie die altbekannte Bitte der sicherheitsbehördlichen Ermittlungskräfte einfach „Ruhe zu bewahren“.

Nicht überraschend waren die öffentlichen Bekundungen zu diesem Fall aus der Neonazi-Szene im Netz, indem man unter die Meldung auf der Solinger Blaulichtseite bei Facebook mit der Buchempfehlung „Deutschland schafft sich ab“ kommentierte. Übrigens bekam dieser Kommentar 30 Likes. Auf die Bitte den Kommentar zu löschen, bekam man Morddrohungen. Die Solinger Eliten haben zu diesen Vorfällen geschwiegen und die strafrechtlichen Konsequenzen für die zwei jugendlichen Täter blieben für die Öffentlichkeit unerwähnt. Dieses bekannte Vorgehen ist fast schon salonfähig geworden, wenn das Leben von Menschen mit internationaler Geschichte auf dem Spiel steht – mit der listigen Intention, keine schlafenden Hunde zu wecken. Wenn man eins garantieren kann, dann ist es die Tatsache, dass die Vergangenheit nie vergisst.

Das vergessene Versprechen an den Antifaschismus

2005 ist Oury Jalloh, ein Asylsuchender aus Sierra Leone, in der Dessauer Polizeizelle aus unerklärlichen Gründen verbrannt. Ein weiterer unschuldiger Mensch fiel den Flammen zum Opfer. Die NSU-Mordserien, der Anschlag in Hanau und weitere Verbrechen werden mit jeder Aufarbeitung in paradoxen Integrationsdebatten verstrickt, in denen die Verantwortung dieser Taten primär auf die Opfer abgewälzt wird. Ein institutionelles Defizit innerhalb der Strukturen in Sicherheits- und Ermittlungsbehörden äußert sich durch die unzulänglichen Ermittlungen bei ihrer Aufklärungsarbeit. Hanau, Hoyerswerda, NSU hätten nach Solingen mit Sicherheit verhindert werden können, wenn man die Lehren der Vergangenheit nicht nur nickend und belächelt gezogen hätte. Die Liste der rechtsextremistischen (Jugend-)Organisationen und Vereine ist in keinem anderen Land länger als in Deutschland.

Noch heute werden etliche rechtsradikale Vereine geduldet. Ihre Existenzberechtigung wird durch den Verweis auf unser Grundgesetz legitimiert, obwohl in Artikel 9 folgende Bedingung gilt: „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“ Der Konsens, wir würden in einem antifaschistischen Deutschland leben, ist eine Wunschvorstellung. Wir leben nicht mehr in einem antifaschistischen Deutschland, sondern eher in einem postfaschistischen, aus dessen Strukturen wir uns noch befreien müssen. Die Startlinie für diese Befreiung haben wir lange gesucht. Nun haben wir sie selbst aufgemalt und heute liegt sie vor unseren eigenen Füßen.

Wie bekannt, steckt hinter jeder Zerstörung auch eine Wiederauferstehung – wie der Phönix aus der Asche. Familie Genc hat das Gebot der Nächstenliebe in die Solinger Straßen getragen, die Faust nicht in Wut umgewandelt, sondern in einen unzerstörbaren Mut, und die sich für eine solidarische Zukunft einsetzt.

Dieses Land hat verleumdet, verbrannt, erschossen und zu schnell vergessen. Welche grauenhaften Schicksale müssen vulnerable Menschen hierzulande noch erleiden? Wann dürfen auch wir wieder ungetrübt (auf)atmen und sorgenfrei in der Straßenbahn fahren? Angstfrei die Haustüren abschließen? Unsere Kinder unbekümmert im Park spielen sehen?

Wir wollen nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Geschichten hören!

Die zuvor gestellten Fragen wurden häufig auf Menschen mit Einwanderungsgeschichte projiziert, resultierend aus einem Gefühl der Entfremdung in der eigenen Heimat durch die herablassende Bezeichnung „die Ausländer“. Es ist an der Zeit, das Narrativ umzulenken und auf Nazis, Rechte, Rassisten und jene, die meinen, Deutschland schaffe sich ab zu übertragen. In einem Punkt haben sie alle recht, wenn sie sagen, es sei nicht mehr ihre Heimat. Ihre Heimat ist sie schon lange nicht mehr, denn Heimat kennt keinen gewaltbereiten Fremdenhass gepaart mit Ignoranz und Gleichgültigkeit.

Die schwarzen Gläser meiner Sonnenbrille verstecken die Trauer, die ich bei jeder Gedenkveranstaltung fühle. Dieses Mal ist es ein sonniger Tag, aber ich sehe die Farben verdunkelt in Grautönen. Ich blicke auf die fünf Kastanienbäume rüber und frage mich, was wohl ihre Geschichte ist? Wer waren Gürsün, Hatice, Gülüstan, Hülya und Şaime? Welche Persönlichkeiten steckten hinter diesen Namen? Wie lachten sie? Wie hörten sich ihre Stimmen an? Was waren ihre Lieblingsfarben? Welche Wünsche und Ziele hatte sie? All diese Fragen können wir nicht mehr persönlich stellen, aber auf Antworten spekulieren und sich fragen, wie ihr Leben heute ausgesehen hätte. Würden sie immer noch an der Unteren Wernerstraße wohnen? Wären sie glücklich hier? Welchen Teil würden sie in unserer Gesellschaft spielen?

Letztere können wir heute alle beantworten. Sie sind das dunkle Kapitel deutscher Geschichte mit einem mahnenden Ausrufezeichen, das viel zu oft übersehen wird und mit jedem vergangenen Jahr noch mehr an Beachtung verliert. Hinter beileidsbekundenden Wörtern der politischen Eliten im Lande, die jedes Jahr fallen, vergisst man das gegebene Versprechen an die Opfer und deren Hinterbliebenen: Nie mehr wieder. Man könnte meinen, dass teilnahmslose und passive Gedenkveranstaltungen den Zweck einer Profilierung erfüllen, damit das Label „Antirassismus“ bloß nicht abgenutzt wird. Damit einhergehend stellt man sich die Gretchenfrage, ob diese Form des Gedenkens präventiv ist? Dienen tut sie nur den schlauen Mündern, die solche Ereignisse für ihren politischen Erfolg antizipieren. Und zynische Stimmen wie „Jetzt ist aber mal Schluss mit dem Beileidswahn“ werden erschreckend lauter. Es ist nicht nur eine subjektive Wahrnehmung, die hier geäußert wird, sondern auch die alarmierenden Studien über die rassistische Gesinnung und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit innerhalb der Mitte der deutschen Gesellschaft belegen dies.

In meiner tiefen Versunkenheit der Trauer unterbricht die Polizei mich am Ende der Gedenkveranstaltung mit der Aufforderung, den Platz so schnell wie möglich zu räumen. Die Zeit zum Trauern bleibt eingeschränkt, wie die versprochenen Maßnahmen nach dem rechtsradikalen Terroranschlag an Gürsün Ince, Hatice Genc, Gülüstan Öztürk, Hülya Genc, Şaime Genc am 29.05.1993.

Text: Torhan Gülderen

Lektorat: Dilek Kalın

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