Istanbul Diaries

Insider aus dem Alltag junger TürkInnen

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Bei den Schlagzeilen über die Türkei gibt es in Deutschland vieles, was untergeht. Deshalb hat Lisa Neal in Istanbul bei jungen TürkInnen nachgefragt: Was sind die Feinheiten, die  dem Blick verloren haben? Was sich seit dem Putschversuch im Land verändert hat.

Aus dem Alltag junger TürkInnen

  • Die Preise für Alkohol und Zigaretten sind seit dem Handelsstreit der türkischen Regierung mit der EU und den USA extrem angestiegen. Deshalb feiern junge Türken mehr WG-Partys. Seitdem sind die Straßen abends gerade in Studierenden-Gegenden ruhiger geworden.
  • Wo nach wie vor gute Partys steigen: In normalen Restaurants. Hier wird ab 22 Uhr das Licht gedimmt, die Musik aufgedreht und die Stühle beiseite geschoben. Am Ende singen auch die Kellner mit.
  • Autorin eines türkischen Kochbuchs: „Türkei-Lifestyle Produkte sind seit dem Putschversuch 2016 in Deutschland aus der Mode gekommen.“

Was viele Deutsche nicht verstehen

„Wenn man sich weigert den türkischen Namen eines deutsch-türkischen Kollegen richtig auszusprechen, dann ist das ignorant. Lieber nachfragen, als jemanden sich immer fremd fühlen lassen!“, sagt Emine.

  • In vielen Köpfen zählt die Türkei zu den arabischen Ländern. Zwar ist die Türkei hauptsächlich muslimisch (vorwiegend sunnitisch), aber ihr eigener Vielvölkerstaat (laut Peter Andrews 51 ethnische Gruppen, Zahlen dazu werden seit 1965 nicht mehr veröffentlicht).
  • Und andersherum, was viele TürkInnen nicht nachvollziehen können: Die Alman hesabı – (die deutsche Rechnung = getrennt zahlen).

Diktator-Wahn

  • „Was hat euer Präsident denn jetzt schon wieder gemacht?“ – für viele ist es anstrengend, wenn sie sich immer wieder verhalten müssen. Vor allem, für Menschen mit türkischen Wurzeln, die in Deutschland leben (also ist ihr „Präsident“ Bundeskanzlerin Merkel) und sich plötzlich zu Erdoğan verhalten müssen.
  • „In der Türkei gab es auch eine Zeit vor Erdoğan, da war es nicht unbedingt einfacher. Ich erinnere mich zum Beispiel an willkürliche Straßenkontrollen und Prügeleien unter verschiedenen Gruppen in den 80igern“, erzählt Koray.
  • „Alle sind neidisch auf uns Türken“ – diese Propaganda der Regierung funktioniere nicht mehr, erzählen Tugba und Nilay. Neid sei lange die Erklärung für die Kritik aus dem Ausland gewesen.

Hürden

  • „Wenn nicht zumindest eine Klage am Hals hast, dann giltst du als nicht kritisch genug und bist kein guter Journalist“, erklären mir junge Journalisten. Der Druck auf Journalisten steigt, warum braucht es eine „Märtyrer“-Konkurrenz untereinander?
  • Ende September 2019 gab es in Istanbul ein Erdbeben Stärke 5,7. Das war das stärkste Beben seit 20 Jahren. Experten warnen, dass eine wesentlich stärkere Erschütterung anstehe. Diese Bedrohung sei nun viel präsenter, die Vorkehrungen seien nicht überall in der Stadt optimal.
  • Zuerst hießen viele sie willkommen, jetzt werden sie von Politik und vielen Menschen für die Schieflagen im Land mitverantwortlich gemacht: Laut UNHCR leben ca. 3.5 Millionen syrische Geflüchtete in der Türkei (Stand: Dezember 2017).

Veränderungen

„Seit dem Putschversuch in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 sind die Muezzine (Ausrufer zum Gebet) in Istanbul lauter geworden“, erklärt Hatice.

  • Verschiedene Stadtteilverwaltungen in Istanbul setzen sich für mehr Fahrradwege ein. Das ist in Istanbul nicht nur geografisch schwierig (hügelig), sondern auch ein großer Verwaltungsakt. 2019 habe ich mehr Fahrradfahrer gesehen als noch ein Jahr davor.
  • Canan Kaftancıoğlu ist hauptverantwortlich für die erfolgreiche Kampagne des neuen Istanbuler Bürgermeisters und die erste Frau im Amt des Istanbuler Vorsitz der Cumhuriyet Halk Partisi. Im September 2019 wurde sie u.a. aufgrund von Terrorpropaganda zu fast 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Beweis: 35 regierungskritische Postings auf Socia Media. Sie wird für Dauer des Berufungsverfahrens nicht festgenommen. Laut ihrer Partei muss nun ein Berufungsgericht binnen sechs Monaten über den Fall entscheiden. (Stand Feb. 2020)

Autorin: Lisa Neal

Fotograf: Adem Erkoçak

 

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