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Gesellschaft & Geschichten

„Es gibt viele von uns“

Drei Berlinerinnen über strukturellen Rassismus, die AfD und rechten Terror.

Drei Berlinerinnen über strukturellen Rassismus, die AfD und Deutschlands Verantwortung für rechten Terror.

Leyla, Nil, Gamze*, sie alle sind in Deutschland geboren, zwei von ihnen besitzen einen deutschen Pass. Gehören sie hier dazu?

Gamze Doğan: Die Diskussion um Zugehörigkeiten ist überflüssig. Niemand sucht sich aus, wo er geboren wurde. Ich lebe hier und bin ein Teil dieser Gesellschaft, genauso wie jeder andere Mensch, dessen Vorfahren „immer schon“ in diesem Land gelebt haben. Es gibt viele von uns. Deutschland sollte sich langsam daran gewöhnen.

Leyla Akpınar: Ich bin wütend darüber, dass wir immer wieder die gleichen Diskussionen führen. Das verletzt mich. Wir haben hart dafür gekämpft, als Mitglieder dieser Gesellschaft anerkannt zu werden.

Dennoch, du kannst einen akademischen Abschluss erwerben, dir eine Eigentumswohnung kaufen, einen Schrebergarten und einen sehr gut bezahlten Job haben. Aber deine Meinung zählt nicht.

Nil Çalışkan: Beim Blick in die Kommentarspalten in Zeitungen oder in den sozialen Medien bekomme ich schnell das Gefühl, dass ich niemals dazugehören werde. Ich muss mir immer wieder sagen, diese lauten, hässlichen rassistischen Stimmen repräsentieren nur eine Minderheit.

Was müsste sich nach Ihrer Meinung ändern?

Leyla: Vielleicht sollten sich Medienschaffende nicht immer nur die Vorzeige- oder die Problemtürken für ihre Interviews aussuchen. Menschen wie in dieser Gruppe nimmt niemand wahr, wir werden nicht gefragt. Es sind entweder die vermeintlich „modernen Vorzeigeintegrierten“ oder die „doofen AKP’ler“. Es gibt aber genug Menschen, die nicht so denken. Außerdem: Ich bin gegen den türkischen Staatspräsident Erdoğan, aber ich würde nicht alle AKP’ler als dumm bezeichnen.

Nil: Diese Art der Berichterstattung führt dazu, dass hier lebende Türkeistämmige aus Trotz Erdoğan wählen. Das ist zumindest das, was ich in meiner Familie beobachte.

Leyla: Wenn sogar ich nach der Özil-Debatte …

… Die Kritik an dem deutschen Nationalspieler, der sich mit Erdoğan fotografieren ließ, die voller Klischees und Rassismen war ….

Leyla: …. sage: ‚Nehmt doch eure Kultur und steckt sie euch sonst wohin‘, dann verstehe ich sehr gut, wenn Menschen, die sich ohnehin nicht angekommen fühlen, offen sind für die Heimatpropaganda der Türkei.

Wenn du ständig für den Scheiß von anderen Menschen verantwortlich gemacht wirst, führt das irgendwann zu einer grundsätzlichen Abwehrhaltung.

Nil: Es wird hier mit zweierlei Maß gemessen. Das Foto von Lothar Matthäus, der während der WM mit Putin posierte, hat keine Krisendebatte ausgelöst.

Leyla: Es ist einfach, sich eine Gruppe herauszusuchen, mit dem Finger auf sie zu zeigen und zu rufen: ‚Guckt mal, wie dumm die sind.‘ Damit kann man trefflich von anderen Problemen ablenken.

Sie meinen wohl die NSU-Morde. Vertrauen Sie dem deutschen Staat?

Nil: Ich vertraue keinem Staat. Ich glaube, dass überall innen- oder außenpolitische Interessen stets moralischen oder rechtsstaatlichen Prinzipien übergeordnet werden. Deutschland empfinde ich im Vergleich zu anderen Staaten vertrauenswürdiger. Aber seit dem NSU-Skandal hat mein Vertrauen einen gewaltigen Riss bekommen.

Leyla: Wenn ich darüber nachdenke, welche Rolle der Verfassungsschutz bei der NSU-Mordserie gespielt hat, komme ich ins Zweifeln. Allerdings funktioniert die Gewaltenteilung, und es gibt Medien, die Missstände im NSU-Fall aufgedeckt haben. Das Gefühl, in diesem Staat keine Angst haben zu müssen, hat wohl mehr mit meiner persönlichen Stärke zu tun als mit Vertrauen in den Staat. Aber ich bin davon überzeugt, dass es mir hier besser geht als in der Türkei.

Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik von Rechtsextremisten in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße 190 in Dortmund ermordet. Inzwischen befindet sich eine Gedenktafel an das NSU-Mordopfer vor dem ehemaligen Kiosk.

Gamze: Warum ziehst du überhaupt diesen Vergleich? Warum orientiert man sich nicht an Ländern wie den skandinavischen, in denen es besser und nicht schlechter läuft? Wieso denken wir, dass wir dankbar sein sollten? Es gibt immer Dinge, die besser gemacht werden können. Das erfordert Arbeit. Man sollte sich nie mit dem Status quo zufriedengeben. Der Status quo sieht so aus: 13 Prozent der wahlberechtigten Deutschen haben bei den letzten Bundestagswahlen die AfD gewählt. Und Innenminister Horst Seehofer freut sich über 69 Abschiebungen an seinem 69. Geburtstag.

Gamze: Ich habe die letzten Jahre im Ausland gelebt und bin sprachlos über diese Entwicklung.

Leyla: Mich beunruhigt es, aber ich sehe nicht nur diese 13 Prozent. Entgegen des europäischen Trends zum Rechtspopulismus haben wir in Deutschland, bei aller Kritik an ihrer Politik, eine Kanzlerin, die 2015 sagte: ‚Wir schaffen das.‘ Das machte mir Hoffnung, weil so viele Menschen helfen wollten. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich hier zum ersten Mal wirklich wohl gefühlt. Inzwischen hat die Kanzlerin einen Deal mit Erdoğan gemacht und arbeitet mit Ländern wie Libyen daran, Menschen von Deutschland fern zu halten. Aber wir haben das Potenzial für eine gute Gesellschaft.

Nil: Ich bin nicht so positiv eingestellt. Die AfD bekommt immer mehr Rückhalt in der Gesellschaft, die Berichterstattung über sie halte ich für problematisch.

Was stört Sie?

Nil: Die AfD’ler werden unterschätzt und lächerlich gemacht. Das ist gefährlich und macht die Partei noch stärker. Im Fall der AKP war das ähnlich. Die Wähler wurden als bildungsferne Idioten abgetan und heute haben sie die Mehrheit. Eine Wählerstimme ist eine Wählerstimme, ob sie aus der Elite oder den sogenannten bildungsfernen Schichten stammt. Wer sagt mir, dass die Menschen, die heute aus Prinzip gegen Rechtspopulismus sind, nicht irgendwann ihr Kreuz bei der AfD setzten?

Ich will nicht, dass mein Kind in einer Gesellschaft aufwächst, in der es die gleichen Ängste haben muss wie ich.

Sie wollen weg?

Nil: Ja. Ich denke darüber nach, es in einem anderen Land zu probieren. Vielleicht in der Türkei. Mir ist klar, dass mich auch dort vieles stören wird. Aber die Angst vor dem Rechtsruck in Deutschland ist größer. Mein Kind hat keine andere Heimat als diese. Er kann noch nicht mal Türkisch, aber sein Aussehen und sein Name werden ihm immer Schwierigkeiten bereiten. Meinen Eltern hat dieser Gedanke nicht weh getan. Sie wussten, dass die Gesellschaft sie nicht akzeptiert und haben sich in ihre Familie zurückgezogen. Aber ich kann und will mich nicht abschotten.

Gamze, Sie haben fünf Jahre in der Türkei gelebt. Wie war das?

Gamze: Ich habe in einer öffentlichen Einrichtung gearbeitet und gesehen, dass es für mich dort keine Zukunft gibt. Freunde von mir wurden wegen einer Unterschrift unter eine Friedenspetition entlassen. Das hätte auch mich treffen können. Die politische Situation und den Umgang mit den Menschen konnte ich nicht ertragen. Daher wollte ich nicht mehr für den Staat arbeiten. Ich habe gekündigt und bin gegangen. Ich habe sehr gerne in der Türkei gelebt, daher ist es mir schwergefallen zu gehen, aber letztlich hat mir diese Erfahrung gezeigt, dass ich mich überall auf der Welt wohl fühlen kann.

Auch wenn Rechtspopulisten finden, dass Sie hier gar nichts zu suchen haben?

Gamze: Ich bin hier und werde nicht wieder weggehen. Gerade jetzt ist es wichtig, sich für eine pluralistische Gesellschaft einzusetzen.

Leyla: Rassismus gibt es in jeder Gesellschaft. Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass es keinen idealen Ort gibt. Wir müssen lernen, Menschen mit anderen Meinungen zu akzeptieren, aber niemals den Mund halten, wenn es um Rassismus oder andere menschenverachtende Ideologien geht.

Wir müssen raus aus unserer Blase, was nicht bedeutet, dass ich Bock oder die Pflicht habe, mit Nazis oder der AfD zu reden. Aber ich betrachte es als Aufgabe einer jeden Bürger*in, ihren Beitrag für ein besseres Zusammenleben in einer besseren Gesellschaft zu leisten.

*Alle Namen von der Redaktion geändert

Leyla Akpınar, 32, Ingenieurin. Nil Çalışkan, 32, Politologin. Gamze Doğan, 34, Sinologin. Sie sind seit Kindestagen befreundet, demonstrieren gegen Nazis, meiden Social Media, diskutieren gerne bei gutem Essen und Rakı über Gött*innen und die Welt.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der taz.gazete.
Autorin: Canset Icpinar
Illustration: Stefanie F. Scholz

 

 

 

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