Ist denn kein vernünftiger Mann unter euch?

Wie queer und muslimisch sein zusammen geht.

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Corona hat viele Schattenseiten. Zum Beispiel überlege ich mir immer 2mal, ob es tatsächlich notwendig ist, in die Bahn einzusteigen. Immerhin trennen mich von meinem Interviewpartner 550 Kilometer. Aber: Es lebe die digitalisierte Welt! So hatte ich die Möglichkeit, dennoch diese wichtige Interview zu führen. Denn schließlich geht es hierbei um eine andere Schattenseite, die noch viel älter als der neuartige Virus ist. Ein Schatten, der vielen Menschen auf diesem Planeten das Leben immens erschwert, ja sogar den Tod von Menschen zu verschulden hat.

„Ist denn kein vernünftiger Mann unter euch?“ (11:78) gehört zu einem der Verse aus dem Koran, die zur Geheimhaltung auf der einen Seite beitragen und zu Gewalt auf der anderen Seite aufrufen können. Der Vers stammt aus der elften Sure (Hud), die mitunter auch vom Propheten Lot und seinem Volk berichtet. Die Auslegungen dieser Stellen erklären Homosexualität zu einer Gesetzwidrigkeit. Gleichgeschlechtliche Liebe (unter Männern) wird somit für „unnatürlich“ erklärt. Doch dazu gleich mehr.

Einer der Menschen, die dieses Tabu aufbrechen wollen, ist Tugay Saraç. Er arbeitet bei der Ibn Rushd-Goethe Moschee als LGBTIQ*-Koordinator. In seiner Arbeit forscht er, inwiefern der Islam kompatibel mit einem LGBTIQ*-Leben ist. Bei all der diffamierenden Haltung der großen, monotheistischen Religionen gegenüber Homo- und Bisexualität, Trans- und Intergeschlechtlichkeit findet er einfache Worte in diesem kontroversen Thema. Einfache Worte, die für betroffene Menschen heilend sein können.

Sein Ziel ist es, den Menschen die Religion und eine Zugehörigkeit zurückzugeben. Seine Motivation ist eine persönliche Überzeugung. Er selbst lebt offen schwul und muslimisch. Seine Welt spielt sich auf derselben Bühne ab, auf der Katastrophen passieren wie der Anschlag von Orlando, Hanau und die von einem schwulen Paar, das der Islamische Staat vom Dach stürzen ließ. In diesem Interview erklärt er, wie er zu seinem Posten kam, was er dabei erlebt und wie es mit seiner Arbeit weitergeht.

Mit Menschen wie Tugay Saraç bringen wir Licht in die Dunkelheit. Die dunklen Ecken der Schattenseiten werden beleuchtet und zeigen die Komplexität von menschlichen Realitäten. Realitäten, die es nun mal gibt und die gesehen werden wollen. Dafür zeigt Tugay Saraç sein Gesicht.

Wie kam es, dass du als LGBTIQ*-Koordinator bei der Ibn Rushd-Goethe Moschee arbeitest? Erzähl uns etwas über deine Person.

Ich bin von Anfang an in der Moschee dabei gewesen. Damals war ich noch ungeoutet. Erst nachdem im Oktober 2017 der Imam Ludovic-Mohamed Zahed (französischer Imam, der eine LGBTIQ*-freundliche Moschee eröffnete) in unserer Moschee zu Besuch da war, erkannte ich, dass, was ich vorher stark anzweifelte, Homosexualität mit dem Islam kompatibel sein kann. Zwei Monate später habe ich mich dann geoutet. Ab dem Zeitpunkt galt ich dann als erstes offen schwules Mitglied in der Moschee.

Anschließend bot man mir die Stelle zum LGBTIQ*Koordinator an. Die Arbeit war zunächst keinesfalls leicht für mich. Denn ich war vorher „total hetero“. Ich kannte keine Schwulen. War nicht in der Szene. Hatte mich kurz zuvor mir selbst gegenüber geoutet.  Nun musste ich mir noch zudem alles autodidaktisch über dieses Thema aneignen. Alles was spannend, interessant und wichtig ist. Es kommt immer was Neues dazu und somit ist es ein andauernder Lernprozess.

Wie gestaltet sich die Arbeit als LGBTIQ*-Koordinator? Was sind so deine Erfahrungen? Wer kommt zu dir?

Uns liegt es am Herzen, dass wir die Arbeit auf alle anderen Menschen erweitern, allerdings schreiben uns bisher häufiger junge, schwule Muslime, vereinzelt haben wir auch Kontakt zu Trans*menschen und viel seltener schreiben uns junge Lesbinnen.

Die Probleme der LGBTIQ*-Muslim*innen sind sehr individuell. In dem Rahmen haben wir auch einen stetigen Austausch mit Theolog*innen, um zu wissen, wie man diesen Menschen helfen kann. An erster Stelle dreht es sich bei der Arbeit um den psychologischen Aspekt. Aber der theologische Aspekt ist uns der wichtigste Ansatz. Es geht schließlich bei uns um die Religion. Und die wollen sie nicht einfach so aufgeben. Auch wenn sie wissen, dass ihre Mitgläubigen ihnen Gewalt androhen. So war es ja auch bei mir. Unsere Moschee bietet diesen Menschen eine Gemeinde, in der sie sie selbst sein können.

Die Religion Islam hat sehr viele Gesichter und trägt somit zu den vielschichtigen Deutungsansätzen des Islams bei. Welche Stellen im Koran werden als anti-homosexuelle Haltung des Islams gedeutet, die die Diskussion um solche Themen kontrovers gestalten? Kann man eingrenzen, wer hinter diesen Deutungshoheiten steckt?

Man kann nicht eingrenzen, von welcher Strömung des Islams die anti-homosexuelle Deutung kommt. Es ist leider die Mehrheitsmeinung. Sunniten, Schiiten, sowie andere große, muslimische Rechtsschulen unterscheiden sich hier nicht großartig voneinander. Hier wird ausschließlich die Geschichte vom Propheten Lot als Beispiel genommen. Das Volk von Lot war für ihre ausschweifende Lebensart bekannt. Von Völlerei, Habgier bis hin zu Vergewaltigungen war alles in diesem Volk vertreten. Eines Tages besuchten zwei besonders hübsche männliche Engel in der Gestalt von Menschen den Propheten Lot. Das Volk von Lot verlangte, dass Lot diese Engel herausgibt, damit sie diese vergewaltigen können.

Viele Muslim*innen benutzen diese Stellen im Koran als Beweis für die Unzucht von Homosexualität. Unsere Meinung ist, dass diese Stellen nichts über einvernehmlichen Sex und Liebe hinweisen, sondern nur auf Vergewaltigung: Männer vergewaltigen Männer. Demnach verbietet der Koran nicht die Homosexualität. Es ist keine klare Konsequenz zu erkennen. Zumal die weibliche Homosexualität in keiner Stelle genannt wird. Die Diskussionen um illegalen Sex aus einem islamischen Blickwinkel sind weitestgehend ungeklärt. Ist ein Kuss illegal? Was ist mit Oralverkehr? Wie sieht es mit umarmen und kuscheln aus? Leider werden diese Themen in ihrer echten Komplexität nicht besprochen.

Wir reden hier von Homosexualität, was allerdings nur einen kleinen Teil des gesamten LGBTIQ*-Spektrums anspricht. Äußern sich muslimische LGBTIQ*-Kritiker*innen über die anderen Lebensrealitäten des ganzen Spektrums oder ist die (diffamierende) Betrachtung tatsächlich nur auf die Homosexualität begrenzt?

Nein, kaum. Ich bin bisher zu 99,5 % sicher, dass diese Themen nicht behandelt werden.

Gibt es hierzu Ansätze der Ibn Rushd-Goethe Moschee, diese Bandbreite vertreten zu können?

Wir sind stets in Kontakt mit Menschen, die diese Bandbreite leben. Bundesweit schreiben uns viele Menschen und bieten uns ihre Mitarbeit an. Allerdings muss man auch einsehen, dass es kompliziert ist, da diese Menschen sich nun mal scheuen. Sie haben verständlicherweise Angst und arbeiten deshalb eher mit uns im Hintergrund. Zum Beispiel haben sie auch Angst, überhaupt in die Moschee zu kommen. So bleibt es dann beim Onlinekontakt. Es ist schwierig, Menschen zu finden, die offen mit uns arbeiten.

Du selbst zeigst unter diesem (höchst) brisanten Thema dein Gesicht in den öffentlichen und sozialen Medien. Wie sind deine Erfahrungen mit Diskriminierung? Hat sich da was verändert?

Ja, tatsächlich wird es etwas intensiver. Meine Telefonnummer tauchte online auf und ich war gezwungen alle anonymen Anrufer*innen zu blockieren. Beleidigungen wie „Du bist doch die Schwuchtel von YouTube?“, „Du bist kein Mann!“, „Warum lässt du dich in den Arsch ficken?“ habe ich mir bisher anhören müssen. Es gibt aber auch besorgte Stellungnahmen zu mir wie „Tugay, du musst dich nicht in den Arsch ficken lassen. Du musst dafür nicht schwul sein.“ Aber mal ehrlich, du musst mir nicht sagen, was ich im Bett zu tun habe oder nicht.

Mir ist aufgefallen, dass es sich bei Hate Speeches vor allem um Sex(ualität) dreht. Hurensohn oder Nutte z. B. sind Beschimpfungen, die in diese Kategorie fallen. Wenn ich diesen Menschen wissenschaftlich und theologisch Kontra gebe, dann hört es ganz schnell wieder auf. Sie haben den Koran selbst noch nie so durchgewühlt wie ich, aber wollen mich wie Imame belehren. Meist stecken dahinter junge und übereifrige Menschen. Ich überlege, was die Motivation dahinter ist, dass man in seiner Freizeit Menschen, die man anscheinend nicht leiden kann, anschreibt.

Vielleicht will man Gott so sehr beweisen, dass man nicht schwul ist, dabei ist man es eigentlich schon. Zumindest kenn ich dieses Verhalten von meinem früheren Ich.

Was würdest du queeren Menschen, die sich zwischen den Stühlen Anti-LGBTIQ*-Islam VS. LGBTIQ*-ist-konform-mit-Islam befinden, als Empowerment-Move mit auf den Weg geben wollen?

Die Phase, in der ich mich gehasst habe, weil ich schwul bin, war hart. Die Phase, in der ich mich mit meiner Homosexualität abgefunden, aber mich nicht geoutet habe, war schwieriger. Ein Leben zu führen, in dem man sich und alle anderen anlügt, ist mega hart. Wenn man eine Person findet, mit der man offen reden kann, dann geht es bergauf. Auch wenn es eine Therapie ist. Hauptsache man redet darüber. Man kann auch mit mir sprechen. Unsere Kontakte der Ibn Rushd-Goethe Moschee sind alle online zu finden. Einfach reden. Das ist das allerwichtigste.   

Jetzt kommen wir zu dem FUN-Part des Interviews: Ich habe mir überlegt, diese Fragen allen meinen Interview-Partner*innen zu stellen. Es mag plump erscheinen, aber das soll es nicht. Allerdings kommen die lustigsten Antworten dabei raus, weil Fragen wie diese einen großen Spielraum lassen:

Was ist typisch türkisch?

Typisch türkisch ist es, wenn man seinen Gästen immer und immer mehr auftischt, bis sie platzen. Zum anderen ist es auch typisch türkisch, Besucher*innen, die Gefallen an irgendeinem Gegenstand in deiner Wohnung finden, dieses Ding sofort in die Hand zu drücken und ihnen zu schenken.

Was ist typisch deutsch?

Der Kellner kommt an den Tisch, um zu kassieren. Kaum wird die Frage ausgesprochen „zusammen oder getrennt?“, schießt es wie aus der Pistole „Getrennt bitte!“

 

Falls auch du zu den betroffenen Menschen gehörst, nimm bitte dieses Interview als Stärkung wahr. Du hast eine Stimme und die will gehört werden. Wenn dir niemand zuhören will, dann besorg‘ dir einen Therapieplatz. Es gibt mehrere Anlaufstellen für Menschen wie dich überall auf der Welt. Gerne kannst du auch die Hilfe von Tugay Saraç wahrnehmen. Klicke hier, um auf  die Seite er Moschee zu gelangen. Bitte beachte zudem auch das neue Projekt der Moschee A.I.D. – Anlaufstelle Islam & Diversity.

Bleib stark und sei mutig!

Interview & Foto: Murat Taşcı

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