Wir befinden uns am Heinrichplatz, einem belebten Ort in Berlin-Kreuzberg, umringt von plakatierten und mit bunten Graffiti besprühten Altbauten. Hier, in der Oranienstraße 18, steht ein Wohnhaus, das wohl vor allem für die türkische Anwohnerschaft ganz besonders hervorsticht: An der gelblichen Fassade kleben die Endsilben der „miş“-Zeitform der türkischen Sprache in schwarzem Plexiglas. 1994 lies Ayşe Erkmen sie dort anbringen.
Die 1949 in Istanbul geborene Künstlerin graduierte an der Staatlichen Kunstakademie, ebenfalls in Istanbul, in Bildhauerei und kam 1993 mit Hilfe eines Stipendiums nach Deutschland. 1998 arbeitete sie erstmals als Gastdozentin an der Universität Gesamthochschule Kassel. Es folgten im Jahr 2000 und 2011 zwei weitere Gastprofessuren an der Frankfurter Ständeschule und der Kunstakademie Münster. Seit 2012 ist sie nun an der Akademie der Künste in Berlin. Neben ihrer Lehrtätigkeit ist sie auch als Künstlerin aktiv und hat bis heute an mehr als 60 Ausstellungen weltweit mitgewirkt. Unter anderem vertrat sie 2011 die Türkei auf der 54. Biennale in Venedig. 2008 gab es im Hamburger Bahnhof in Berlin eine große Ayşe-Erkmen-Retrospektive zu sehen. Die Ausstellung mit dem Titel „Weggefährten“ zeichnete die wichtigsten Arbeiten und Stationen der Künstlerin nach. Sie selbst arbeitet vornehmlich allein und bezeichnet ihre Werke als „künstlerische Interventionen in den Alltag“.
1994 bekam Ayşe die Gelegenheit, im Rahmen der İskele (dt.: Aufbruch oder Ankunft) Austellung, bei der Arbeiten junger türkischer Künstler in Berlin präsentiert wurden, die Fassade eines frisch renovierten Hauses zu gestalten. Eigentlich sollte es nur eine temporäre Arbeit werden, extra für die Ausstellung konzipiert. Doch die Intervention stieß nicht nur bei den Betrachtern, sondern ebenfalls bei den Hausbesitzern auf Begeisterung. Und so schweben, schon fast unauffällig, die türkischen Wortendungen auch heute noch, 21 Jahre später, über dem Platz. Doch was bedeuten diese genau?
„-miş“ ist die Zeitform des Hörensagens. Vielleicht war es so, vielleicht aber auch nicht: dafür kennt das Türkische eine besondere Zeitform, die es in keiner anderen Sprache gibt. Die „miş“-Vergangenheit drückt die Unsicherheit des Sprechers in einer vielfältigen Variationsmöglichkeit von Silben aus. Orhan Pamuk schrieb, dass die „miş“-Vergangenheit „das geeignete Tempus ist, um alles wiederzugeben, was wir in der Wiege erleben, im Kinderwagen oder bei unseren ersten wackeligen Schritten.“ Es ist die Zeitform für vage Erinnerungen. Ayşe Erkmen suchte sich deshalb nicht einfach wahllos ein Haus irgendwo in Berlin aus, um diese Installation anzubringen, sondern entschied sich bewusst dafür, es in einer Nachbarschaft mit vielen türkischen Bewohnerinnen und Bewohnern zu machen. Denn diese „Grammatik des Ungefähren“, die zum festen Sprachgebrauch der urbanen türkischen Oberschicht gehört, wird von vielen in Berlin geborenen Deutschtürken längst nicht mehr beherrscht. Einzeln, ohne vorangestellten Verbstamm, ergeben die Endungen keinen Sinn und stellen auch für die türkischen Betrachter ein Rätsel dar.
Erkmens Absicht: Für türkischsprachige Menschen ohne Kenntnisse des „miş“-Tempus soll es spielerisch als Aufforderung gelten, sich mit der eigenen Sprache neu auseinanderzusetzen; allen anderen vermittelt die Installation „Am Haus“ ein Gefühl der Fremde und lässt sie ahnen, was ihre türkischen Mitmenschen im deutschen Alltag oft zu spüren bekommen.
So wird der gesellschaftliche Outsider zum Insider und umgekehrt. Zudem möchte die Intervention den Verlust kulturell wertvollen türkischen Sprachguts verhindern und, über allem, den Austausch zwischen den Bewohnern des Kiezes fördern.