Diesen Sommer war es soweit, es war an der Zeit, die alte Heimatstätte meiner Eltern aufzusuchen. Nein, nicht mit dem Flieger, sondern oldschool, mit dem Auto, wie früher, quer über den Balkan, mit Kind und Kegel, und allem was dazu gehört, wollten wir in das Land, das gerade einen Militärputsch verhindert hatte. Fünf Jahre sind vergangen, seit ich das letzte Mal dort war, und sechsundzwanzig seit meiner letzten Autofahrt dorthin.
Damals saß ich als 13-Jähriger hinten auf der Rückbank, während Baba vorne steuerte. Diesmal bin ich der Baba, der vorne lenkt.
Auch deshalb ist es eine besondere Reise, zumindest aus meiner Sicht, denn es wurde Zeit, den Kindern zu zeigen, wo Ihre Baba-Anne und Dede eigentlich mal herkamen und wie weit das von uns hier in Berlin entfernt liegt.
Wir haben uns für einen ca. 3000 km langen Weg nach Tekirdağ entschieden, zur ehemaligen Fischerstadt am Marmara Meer, 134 Kilometer westlich von Istanbul. Die Balkan-Route in die Türkei war für mich immer der Weg, der Altes mit Neuem verband und fest zusammenhielt. Der Weg, der einem mit jedem Kilometer vor Augen führt, wie mühsam Ankommen und Loslassen sein können; der Weg, den Tausende Menschen aus Europa jeden Sommer auf sich nehmen, um dorthin zu fahren, wo sie ursprünglich mal herkamen. Doch wir haben es mit der Hinreise nicht ganz so eilig wie meine Eltern damals, die die Strecke jeden Sommer durchbretterten und nur kurz anhielten, um etwas zu schlafen oder auf Toilette zu gehen.
Die erste Nacht verbringen wir nach zehn Stunden Autofahrt in einer halbprivaten Pension in Slowenien, gleich hinter Ljubljana, und am Abend des darauffolgenden Tages bauen wir dann unser Zelt an einer der traumhaft-schönen Inseln im Norden Kroatiens auf. Das Ziel ist klar, aber einen konkreten Reise-Plan haben wir nicht, da wir nicht sicher sind, wie weit wir täglich kommen werden und wie viele Stunden Autofahrt wir den Kindern zumuten können.
Seit dem Militärputsch in der Türkei sind zwei Wochen vergangen und ich habe ein ziemlich mulmiges Gefühl im Bauch, wenn ich an die politische Situation dort denke.
Wenn noch etwas Schlimmes passieren sollte, dann wohl eher bald. Je mehr Zeit verstreicht, desto stabiler würde die Lage dort sein, hoffe ich. Nach drei Nächten bauen wir unser Zelt in Kroatien wieder ab und arbeiten uns langsam an der Mittelmeerküste Richtung Südosten vor. Kurz vor Dubrovnik beschliessen wir dann spontan nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu suchen.
Am nächsten Morgen geht es nach einem netten Schwätzchen mit dem jungen Hotelbetreiber wieder weiter die Küste entlang Richtung Montenegro. Doch vorher müssen wir noch den einzigen schmalen Küstenzugang Bosnien Herzegowinas passieren. Er ist etwa 10 Kilometer breit und hat sich in die adriatische Küste Kroatiens hineingeschoben, zwei Grenzübergänge markieren ihn. Es braucht drei heiße Stunden im Auto, bis wir dieses Nadelöhr durchfahren haben. Anschließend belohnen wir uns mit einem Abendessen in einem Fischrestaurant in Herceg Novi, gleich hinter der Grenze in Montenegro. Erstaunlich ist, dass sich hier die Topographie schlagartig verändert. Plötzlich sind wir umgeben von dunkelgrün bewaldeten Bergen – Montenegro macht seinem Namen alle Ehre. Die Tourismusbranche hier ist vergleichsweise jung, die dichte und lebendige Küstenpromenade wurde mit russischen Geldern hochgezogen, und dabei hat man nicht gekleckert.
Beim Bezahlen müssen wir feststellen, dass die Montenegriner ziemlich böse gucken können, wenn man versucht, die Rechnung mit kroatischen Kuna zu begleichen. Das dürfte von der kulturellen Nähe zu den serbisch-orthodoxen Nachbarn herrühren, die nach wie vor auf die mehrheitlich katholischen Kroaten nicht so gut zu sprechen sind.
Über uns verdunkelt sich der Himmel und wir haben noch keine Bleibe für die Nacht. Als wir weiter südöstlich zum nächsten Ort fahren, halten wir immer wieder an, um nach privaten Quartieren zu schauen, doch wir haben kein Glück und die Kinder werden allmählich knatschig. Also beschliessen wir, ein Hotel im nächstgelegenen Ort zu nehmen. Zügig fahren wir weiter auf der welligen Straße. Bis uns plötzlich eine Polizeikontrolle am Straßenrand herauswinkt. „Na, das fehlte uns jetzt noch“.
„Because of the children …“
„Hello“, sage ich.
„Your light is broken“, sagt der Polizist.
„Ach du Scheiße!“, denke ich und steige aus. Tatsächlich! Ein Abblendlicht vorne hat den Geist aufgegeben.
„And! You didn’t put the belt on“, sagt er noch.
„Come on!“, sage ich. Er schaut sich das Nummernschild an und fragt etwas spitzfindig:
„Where are you travelling. To Kosovo?!“
„No! Nix Kosovo“, sage ich, „Turkey.“
Er wirkt etwas überrascht.
„We are coming from Germany. I didn’t know that the light ist broken.“, erkläre ich.
Er schaut sich das Auto näher an, sieht die schlafenden Kinder.
„I won’t give you a ticket, because of the children.“
„Thank you!“, sage ich und lächle ihn an.
„But! You have to fix that light before you drive.“
„Ach, Scheiße, nö!“, denke ich, weil unsere Reise hier ist erstmal zu Ende ist.
Ich fahre an die Tankstelle gleich hinter uns, stelle den knatternden Diesel ab, atme tief aus und krame nach der Betriebsanleitung im Handschuhfach. Mit der richtigen Bezeichnung der Glühbirne gehe ich zum Häuschen des Tankwarts, das nicht besetzt ist.
Zurück im Auto beobachte ich im Rückspiegel, wie der Polizist weiter eifrig seine Kelle schwingt. Ich zücke mein Smartphone heraus und versuche, mich ins Internet einzuloggen. Das muss ein Zeichen sein! Fünf Kilometer von uns entfernt finde ich ein freies Apartment und es ward Licht auf dem „Schwarzen Berg“. Ich sehe, wie der Tankwart sein Häuschen betritt. Jetzt nur noch das Lämpchen vorne reparieren und dann los.
„Drehen Sie um!“
Als ich die Motorhaube öffne und die komplizierte Verkleidung des Scheinwerfers sehe, wird mir schlecht. „Scheiße“, denke ich. „Das schaffst du nie – ein verdammter Ford!“ Lieber netter Bulle, sei mir bitte nicht böse, aber ich fahr jetzt die fünf Kilometer zum Apartment ohne Abblendlicht, denk ich mir. Because of the children, you know? Das müsste er verstehen. Das etwas schwache Standlicht geht ja noch und das andere repariere ich dann morgen, im Hellen, versprochen.
Ich gebe die Adresse ins Navi ein. Das Navi sagt, wir sollen wieder vorbei an dem Polizisten, zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Das machen wir dann auch. Ich starte den Motor, wende das Auto und fahre zurück. Vorbei an der Kontrolle, diesmal auf der anderen Straßenseite. Der Beamte ist schwer beschäftigt und hat nichts bemerkt. Puh, Erleichterung.
Doch das Problem mit diesen GPS-losen Navis ist, dass sie sich manchmal irren können. Denn plötzlich sagt das Navi: „Drehen Sie um!“ Die Stimme dieser Frau mochte ich eh nicht leiden, es ist etwas Herzloses darin, Unausweichliches. „Drehen Sie um“, sagt sie wieder. Meine Freundin und ich sehen uns an, wir wissen nicht, ob wir lachen oder weinen sollen. Wenigstens schlafen die Kinder. Ich fahre weiter, so als ob nichts wäre. Hoffe, das Navi würde nur mal wieder herumspinnen und mir endlich eine neue Route vorschlagen. „Drehen Sie um“, sagte sie wieder und wieder. Das bedeutet, wir müssen jetzt wieder an dem netten Polizisten vorbeifahren. Aber wie nett würde er noch sein, wenn er sieht, dass ich seine Anweisung nicht befolgt habe. Ich böser Transit-Tourist. Was soll’s, ich drehe um. „Sieben Kilometer bis zum Ziel“, sagt die Frau jetzt. „Abwarten“, denke ich. Etwa fünfhundert Meter vor uns ist wieder dieselbe Polizeikontrolle. Keiner von uns hat jetzt noch Lust auf Diskussionen, Strafzettel und nächtliche Reparaturaktionen. Wir wollen nur noch ins Apartment, nur noch die letzten fünf Kilometer hinter uns bringen, die Kinder schlafen legen, uns schlafen legen. Kurz vor der Kontrollstelle hält derselbe Beamte plötzlich jemanden an. Wir schleichen uns unbemerkt vorbei. Schwein gehabt! Danke, „Dunkler Berg“.
Fortsetzung folgt….
Text: Atilla Oener
Kennt ihr schon Atillas Kolumne „Wann ist ein Türke ein Türke“?